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Einsendungen – Tabuthema Tod

Ich für mich selber habe – eine für mich ganz neue -Sicht der Dinge

Ich habe darüber nachgedacht, dass seit Menschengedenken Frauen ihre Kinder verlieren und sie auch betrauern. Noch vor 100 Jahren starb jedes dritte Kind, und oft auch die Frauen im Kindbett.

Solange es Frauen gibt, haben Frauen in ihrem Leben irgendwann einmal ihre Kinder betrauert. Vielleicht ist es ja so, dass sie auch DAHER ihre enorme Kraft und ihre liebevolle Weisheit herhaben.

Ich glaube, wenn etwas seit Anbeginn der Zeit so ist, dann ist es vermutlich auch gottgewollt.     Das ist für mich ein sehr entscheidender Punkt, denn ich war kurz davor damals, mit dem göttlichen Prinzip zu hadern.

Ich möchte nun lernen, auch Kraft genug zu haben, für dieses Prinzip der Natur, weil ich mich als ein teil von ihm verstehe. Es hat für mich etwas wunderbar mystisches bekommen, wenn ich es mir unter diesem Point-of-view betrachte.

Und , auch wenn das meinen Schmerz nicht nimmt, so stärkt es doch mein Bewußtsein, als Mensch, als Frau und als Mutter.

Wütend bin ich jetzt nicht mehr auf mich und auch nicht auf die Schöpfung, sondern auf die LÜGE.

Man hat mir immer eine heile Welt vorgegaukelt. Krieg, Atombomben und Schicksalsschläge waren immer weit weg oder in der Zeitung. Und durch diesen Maulkorb, der uns Frauen in all unseren Aspekten schon immer tabuisierte, konnte diese Lüge gedeihen.

Sie haben mir beigebracht, dass ein Arzt alles rettet.Wer zum Zahnarzt geht, behält seine Zähne, wer zum Gynäkologen geht, der behält sein Kind. Sie haben gelogen!

Sie haben die Kräfte und Unbillen des Lebens so derart von mir fern gehalten, dass ich annehmen musste, es gäbe sie nicht.

Und deshalb war ich auch so unfähig, damit umzugehen, dazu ja zu sagen.

Deshalb habe ich auch oft Unverständnis gesehen von denen, die immer noch an diese Lüge glauben.

Deshalb war ich wütend auf sie, wenn sie mich mit immer wieder dieser selben Lüge auch noch trösten wollten.

Liebe Petra,
ich bin aufgestanden.
Und jetzt bin ich auch noch wach geworden.

Ich habe Träume.
Ich stelle mir manchmal vor, ich hätte schon als kleines Mädchen erlebt, wie       meine Mutti ganz, ganz schnell in die Nachbarschaft musste, um einer betroffenen Familie in der Trauer um ihr Sternenkind beizustehen.

Sie hätte mich, als ich größer wurde zu solchen Einsätzen der Nächstenliebe mitgenommen, und ich durfte schon mal kleinere Aufgaben übernehmen. Es wäre mir gut dabei gegangen, etwas hilfreiches tun zu dürfen und auch zu KÖNNEN.

Ich wäre umhüllt gewesen von vielen Frauen und Helfern und hätte so schon von klein auf gelernt, dass das Leben atmet, in dem es auf und ab geht, hätte gelernt, damit umzugehen, Hilfe zu geben und zu empfangen.

Diese Vorstellung hilft mir zur Zeit sehr.Sie nimmt mir meine Trauer nicht. Aber sie macht mich stärker.Und die Bürde ist leichter zu tragen.

 

Nicht nur das sich die sog. Freunde von einem Abwenden, sondern es darf darüber nicht gesprochen werden.
Warum ???
Natürlich will niemand vom Tod betroffen sein, und in der Hoffnung das dieses Nichtwissen vor dem Eintreten des Todes schützt, wird geschwiegen.

Und gerade deshalb wäre es sinnvoll eine Broschüre über dieses Thema auszulegen. In aller erster Linie für die Betroffenen, aber auch für alle Verwandte, Bekannte und Freunde von Betroffenen. Damit auch diese Menschen lernen damit umzugehen, d.h. mit UNS      umzugehen.

Aber das ist der Punkt, genauso wie Freude ansteckend wirkt, wirkt eben auch Trauer ansteckend. Und wer will schon traurig sein, wird uns nicht überall ein glückliches, unbeschwertes Leben vorgegaukelt. Und ist Tod im Fernsehen nicht etwas , das in zwei Sekunden abgehandelt ist. Da bleibt keine Zeit für Trauer. Wir sind zum Großteil heute derartig Medien beeinflußt und orientiert, daß wir das gar nicht mehr realisieren. Erst wenn man da rauspurzelt, aus der heilen Welt, und die Illustrierten-Babys und Modells einen hämisch angrinsen, hat man die Chance zu merken, das das nicht die Realität ist.

Ich halte es für absolutes dummes Ignorantentum, zu behaupten, eine derartige Broschüre, würde die Schwangeren schockieren. Es ist doch die Chance zu verstehen welch unbegreifliches Glück man hat, ein gesundes Baby zu erwarten und im Arm zu halten.

Wie traurig, das diese Frauen nichts von Schmerz und Glück verstehen, Noch nicht…Wie oberflächlich, das Glück nicht schätzen zu dürfen.

Mein Trost ist, daß unsere Kinder im Himmel auf uns warten und Ihnen die Menschen hier unten erspart bleiben.

Liebe Sascha, ich finde es toll, das Du Dich für die Broschüre einsetzt. Sieh es als eine Revolution an, und da sich nun mal die Menschen aus Gewohnheit gegen Neuerung sträuben, wirst du wohl kämpfen müssen. zum Glück nicht allein.
Bianca

Mögliche Reaktionen des Umfeldes

von Barbara Bürgi
Regenbogen Schweiz – “Wir haben unser Kind verloren….” S.6,
8

Der Tod ist in unserer Gesellschaft auch heute noch ein Tabuthema. Wir sind zwar betroffen über eine Todesnachricht, wissen jedoch nicht, wie wir reagieren sollen.

Die Reaktionen auf den Tod ihres Kindes sind bestimmt breit gefächert von tröstend bis verletzend. Eine Todesnachricht ist immer auch die Konfrontation mit dem eigenen Sterben und viele Menschen laufen vor dieser Auseinandersetzung davon.

Als trauernde Eltern sind Sie sehr verletzlich und leicht verwundbar. Unbedachte Äußerungen schmerzen unheimlich.

Es gibt auch Leute, die dem Thema und dem toten Kind ganz ausweichen. Sie tun so, als wäre nichts geschehen und sind sich dabei nicht bewußt, wie schmerzlich dies ist. Es ist absolut nicht schlimm, zu seiner Hilflosigkeit zu stehen. Im Gegenteil, es zeigt den Eltern, das ihr Leid realisiert wird. Für viele Menschen ist es unverständlich, daß wir Eltern bei einer Fehl-, Früh- oder Totgeburt über den Verlust unseres Babys so traurig sind. Sie vergleichen den Verlust oft mit dem eines älteren Kindes und haben den Eindruck es sei weniger schlimm, weil es noch so klein war. Ein Kind zu verlieren ist immer etwas Schreckliches, unabhängig davon, wie alt es war. Geben Sie Ihrem Kind den Namen, welchen Sie ausgesucht haben.

Es gibt immer wieder Freunde, Bekannte und Verwandte, welche Ihnen von anderen Schicksalen erzählen. Als ob es Ihnen helfen würde, daß das Baby von Frau XY auch gestorben ist. Meistens zeugen solche Erzählungen von einer großen Hilflosigkeit.

Lassen Sie sich auch nicht durch Äußerungen beirren wie: Jetzt solltest Du aber nicht mehr soviel weinen und nicht mehr jeden Tag auf den Friedhof gehen!“ Es ist Ihr Kind, welches gestorben ist und niemand kann Ihnen nachempfinden, wieviel Sie weinen müssen. Sie ganz allein spüren, welcher Weg für Sie der Richtige ist, um mit dem Verlust umzugehen. Auch ein anderes Kind wird Ihnen das Verstorbene nicht ersetzen. Jedes Kind ist einzigartig, auch dieses und es wird nie mehr zurückkommen. Korrigieren Sie auch, wenn das verstorbene Kind nicht mitgezählt wird. Es ist genauso Ihr Kind wie ein Lebendes auch.

Haben Sie Menschen gefunden, mit denen Sie reden können, genieren Sie sich nicht zu weinen. Jede Träne die Sie weinen kann erlösend wirken, jene die Sie nicht weinen, schmerzen Sie.

Auch verwaiste Eltern sind Eltern. Auch wenn Ihr Kind nicht mehr lebt, so ist es doch Ihr Kind. Wie oft begegnen wir im Alltag der Frage: „Haben Sie Kinder ?“. Beziehen Sie ruhig Ihr verstorbenes Kind mit ein und benützen Sie seinen Namen. „Ja, aber unsere Rebecca ist leider kurz nach der Geburt verstorben“. Je nach Situation wird das Gespräch weiter geführt. Sie merken bestimmt, wem Sie noch mehr darüber erzählen möchten und wem nicht. Verstorbene Kinder zählen genauso wie lebende und haben ebenfalls Anrecht auf einen Platz bei uns. Es ist vor allem für Sie wichtig, es miteinzubeziehen, denn so können Sie im Laufe der Zeit auch eine Beziehung zu der ganzen Situation aufbauen. Bestimmt werden Sie auch auf den Ausgang Ihrer Schwangerschaft angesprochen und wie es denn nun Ihrem Kind gehe. Es ist wichtig, daß Sie sich nicht isolieren um dieser Frage auszuweichen. Weinen Sie ruhig und erzählen Sie Ihre Geschichte. Es wird Ihnen helfen, Ihren Schmerz zu lindern.

“Frühtod” – Schattendasein

von Mag. Christine Fleck-Bohaumilitzky

Der Tod am Beginn des Lebens führt im Ansehen unserer Gesellschaft ein Schattendasein.

Wenn vom Tod eines Kindes die Rede ist, gelten die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl meist jenen Eltern, die ihre Kinder durch eine Krankheit oder einen Unfall verloren haben.

Jedes Jahr sterben in Deutschland 4500 Kinder während der ersten Wochen oder gar in den ersten Stunden nach der Geburt. Ungefähr 2500 Kinder kommen tot zur Welt. Jedes Jahr erleiden schätzungsweise 450 000 Frauen eine Fehlgeburt.- Von diesen Schicksalen spricht kaum jemand!

Der Tod im Mutterleib und das Sterben kurz nach der Geburt werden meistens totgeschwiegen, man spricht von einem Mißgeschick, von einer Fehlleistung der Natur. Durch eine neue Schwangerschaft könne das alles wieder wettgemacht werden. Es wird oft nicht wahrgenommen, daß Familien Föten, Embryos und Totgeborene genauso betrauern wie andere Kinder auch.

Die moderne medizinische Versorgung in den Geburtskliniken Deutschlands steht oft in krassem Widerspruch zur seelischen Begleitung, die Eltern von fehl-, früh- oder totgeborenen Kindern erfahren, besser gesagt nicht erfahren. Die Entbindung des Todes ist für viele Ärzte und Hebammen eine narzißtische Kränkung, die schnell wieder ungeschehen gemacht werden soll.

Viele Frauen und Mütter mit Fehl- und Totgeburten fühlen sich schuldbewußt, weil sie als Trägerinnen des Lebens versagt haben. Sie sind fügsam und stellen keine Fragen. Meist wollen sie schnell und schmerzlos den Tod im eigenen Leib loswerden , um ihn zu vergessen.

Die quälenden Fragen, die Selbstvorwürfe, die Schuldgefühle, die Trauer kommen erst später, zu einem Zeitpunkt, wo es meist zu spät ist.

Was war mit meinem Kind? Was ist mit ihm geschehen? Ist es in der Pathologie? Ist es “medizinischer Sondermüll”? Den Variationen der Alpträume um einen Tod am Anfang des Lebens sind keine Grenzen gesetzt.

In einer Zeit, in der oft vom “Schutz  und von der Würde des ungeborenen Lebens” die Rede ist, bilden trauerfeindliche Bestattungsgesetze einen krassen Gegensatz. Wenn Frauen nach einer glücklosen Schwangerschaft rechtzeitig zum Fragen ermutigt würden, wenn Frauen auch diesen verlorenen Kindern einen Grabplatz geben dürften, könnten sie ihre gestorbenen Hoffnungen besser betrauern und begraben.

Wenn ein Kind um die Geburt herum stirbt, stellte sich für die in der Geburtshilfe Tätigen die besondere Aufgabe der Begleitung der Geschwister und der Eltern. Es wäre schön, wenn sie den Eltern Weggefährten auf einem schmerzhaften Stück ihres Lebensweges wären. Die Eltern und Geschwister brauchen in dieser Zeit besonders menschliche Wärme, Kontakt und tiefes Interesse. Für die begleitenden Menschen ist es oft schwierig, mit den Trauernden umzugehen, da ihre eigene Trauer angerührt werden kann.

Bei Ärzten, Hebammen und Krankenschwestern bleibt oft ein Gefühl von Unvermögen, weil sie nicht in der Lage waren, das Leben des Kindes zu retten. Für sie ist es dann wichtig, über ihre Schuldgefühle zu reden und sich bewußt zu machen, daß sie alles in ihrer Macht Stehende getan haben.

Wichtig  ist es, daß die Eltern in einer liebevoll und würdevoll gestalteten Atmosphäre von ihrem Kind Abschied nehmen können – was leider nicht immer geschieht. Eine brennende Kerze im Raum und eine Blume können für die Eltern sehr viel bedeuten. Die Eltern, Geschwister, vielleicht auch Großeltern, andere Verwandte und Freunde brauchen viel Zeit, um von dem toten Kind Abschied zu nehmen, um es zu sehen, zu berühren und im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen.

Der perinatale Tod eines Kindes ist eine tiefgreifende Krisenerfahrung für die Eltern. Es ist wichtig für sie, ihre Trauer ausdrücken zu können, wie z. B. durch Weinen, Schreien, durch Sich-zurück-Ziehen, … .

Namensgebung und Erinnerungsstücke

Wichtig ist es auch, daß die Eltern gefragt werden, welchen Namen sie ihrem Kind gegeben haben. Die Namensgebung symbolisiert die Anerkennung des gestorbenen Kindes als Individuum. Mit dem Aussprechen des Namens kann oft auch der Tod des Kindes als ein Verlust benannt werden. Bedauerlich ist bislang bei Totgeburten, daß staatliche Urkunden das Kind ohne Namen lassen, es wird lediglich “Totgeburt männlich / weiblich” in die Urkunde eingetragen. Das zur Zeit geltende Personenstandsgesetz besagt:

Totgeborene Babys unter 500 g gelten als Fehlgeburten und werden standesamtlich nicht registriert. Totgeborene Babys über 500 g werden ins Sterbebuch eingetragen, erhalten jedoch keine Geburtsurkunde, keine Sterbeurkunde, nur eine Todesbescheinigung. Bis zum 30.06.1998 enthielt diese keine Namensangabe, nur den Vermerk, ob dieses Kind männlich oder weiblich war. Seit dem 01.07.1998 werden auch totgeborenen Kinder ins Geburtsbuch, und auf Antrag der Eltern mit Vornamen, eingetragen (Vgl. Merkblatt von RAin Lehmitz).

Hingewiesen werden soll in hier auch auf die Möglichkeit im Raum der katholischen Kirche, ein zumindest kirchliches offizielles Dokument zu bekommen, das die Existenz und auch den Namen des Kindes festhält und öffentlich würdigt. Ein Eintrag ins Sterbebuch der Pfarrei [beim jeweiligen Jahrgang des Sterbefalls als “Eintrag ohne laufende Nummer”] ist hier ohne Schwierigkeit  – auch noch viel später – möglich: Er kann Grundlage eines offiziellen Auszugs aus dem Sterbebuch sein, der vom Pfarrer mit Siegel und Unterschrift beglaubigt werden kann. (Information v. Msrg. Ludwig Röhrl, Matrikelamt München)

Beim frühen Tod eines Kindes gibt es wenige Gegenstände, die die Eltern an ihr verstorbenes Kind erinnern. Solche Erinnerungsgegenstände können eine große Hilfe für die Eltern sein, um den sonst unsichtbaren Tod des Kindes sichtbar werden zu lassen. In der Klinik könnte viel dazu beigetragen werden, daß die Eltern solche Symbole bekommen. Es kann eine Hilfe sein, Eltern zu fragen, ob sie ein Foto von ihrem Kind haben möchten (bzw. eines zu machen und aufzubewahren – für den Fall, daß Eltern später danach fragen). Es gibt noch andere Erinnerungsstücke, die den Eltern mitgegeben werden können, wie z. B. eine Haarlocke des Kindes, das Namensarmband oder ein Hand- und Fußabdruck.

Beerdigung und Grab — Orte der Trauer

Wichtig ist, daß Eltern Hilfen für die Gestaltung der Beerdigung erhalten. Nicht selten ist der Tod ihres Kindes, der erste, den sie im engeren Familienkreis erleben, so daß sie über die Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten bei einer Begräbnisfeier nicht informiert sind. Wichtig ist, die Geschwister zu fragen, ob sie an der der Beerdigung teilnehmen möchten.

Für die Eltern ist es hilfreich, wenn sie in passender Weise darauf hingewiesen werden, wie wichtig ein Grab als Ort der Trauer sein kann. Das Kind sollte möglichst nicht anonym bestattet werden.

Das Bedürfnis, den Ort zu kennen an dem das Kind begraben ist, wird von vielen Eltern benannt. Und diejenigen Eltern, deren Kind nicht bestattet wurde, suchen oft viele Jahre später nach einem Ort für ihre Trauer.

Einige Beispiele für positive Erfahrungen im Bereich “Orte der Trauer”:

Eltern in Braunschweig haben im Herbst 1993 eine Gedenkstätte für totgeborene Kinder gestaltet, die sie als einen “Ort zum Trauern und zum Abschiednehmen” sehen.

In Augsburg gibt es seit dem 28. September 1994 dank der “Initiative Kindergrab am Augsburger Hermanfriedhof” ein eigenes Grabfeld, das von der katholischen Gesamtkirchengemeinde zur Verfügung gestellt wurde, um die Bestattung von Kindern, die durch Fehlgeburt, Totgeburt oder frühes Sterben in der Neugeborenenzeit ums Leben kommen, zu ermöglichen. Auch wird hier in besonderer Weise auf individuelle Situationen eingegangen.

Die Stadt Kempten hat 1996 zwei Grabfelder für totgeborene Kinder bzw. gestorbene Frühgeburten .

Seit dem 1. April 1994 ist die Grenze des Geburtsgewichtes von totgeborenen Kindern, ab dem sie bestattet werden müssen, von 1000 g auf 500 g herabgesetzt worden. Dies bedeutet, daß viele Eltern nun ohne die bisher notwendige Überwindung von bürokratischen Hindernissen ihre Kinder beerdigen können. Auch Kinder, die weniger als 500 g wiegen, können bestattet werden, dazu bedarf es je nach Bundesland verschiedener Bescheinigungen.

In Bayern ist die gesetzliche Regelung [Gesetz zur Änderung des Bayerischen Bestattungsgesetzes vom 10. August 1994 – GVBl S.770] ebenso geändert worden, daß totgeborene Kind ohne Rücksicht auf ihr Gewicht bestattet werden können.

Hier zeigt sich aber oft, daß Eltern in ihrer Situation weder das Wissen um diese Regelung haben, noch die Kraft sie für ihr Kind – und auch für sich und ihre Trauer einzufordern.

Gezeiten der Trauer – Lernen zu trauern

Artikel aus Ratgeber Frau und Familie vom 27.10 S. 1570,

Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer zu akzeptieren und sie zu durchleben. Angesichts des Todes eines geliebten Menschen fühlen wir uns oft allein und unverstanden. Denn unsere Gesellschaft lehrt auch nicht mehr, mit Trauernden umzugehen. Trauer zu zeigen, ist uns zu Beginn, am Grab und noch eine unbestimmte Zeit danach erlaubt, aber dann sollen wir möglichst bald zur Tagesordnung übergehen. Der Tod eines Menschen, der doch zum Leben gehört wie die Rückseite zu einer Vorderseite, wird von der Medizin mit allen Kräften hinausgezögert und von unserer Umgebung als Thema so weit wie möglich gemieden. Mit dem Kranken schon vorher über seinen Tod zu sprechen, wird uns fast unmöglich gemacht — von ihm selbst oder von unserer Rücksichtnahme auf seine Gefühle. Nach seinem Ableben bleibt den Hinterbliebenen nur die private Stille, in der sie sich mit ihrem Schmerz auseinandersetzen können.

Weinen befreit

Tränen sind nicht nur Ausdruck aufgewühlter Gefühle. Sie können tatsächlich Seele und Körper von belastendem Stress befreien. Das hat eine biologische Grundlage. In der Tränenflüssigkeit sammeln sich Stresshormone (vor allem Proklaktin), die der Körper in solchen Momenten im Übermaß produziert, und die dann mit ihr ausgeschwemmt werden. Das tut dem ganzen Organismus gut und entlastet die Psyche von Druck und Schmerz. Schämen Sie sich also Ihrer Tränen nicht! Halten Sie sie nicht zurück! Sie helfen Ihnen, Ihre Trauer auf gesundem Wege zu durchleben. Das sei auch den Männern gesagt, denen schon in frühester Kindheit das Weinen aberzogen wurde. Frauen weinen im allgemeinen leichter als Männer. Aber das heißt nicht, dass eine Frau um einen Verstorbenen mehr oder tiefer trauert als ihr Mann. Wenn er es sich verbietet, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, zahlt er nur seinen hohen Tribut an unsere gesellschaftliche Vorstellung von Männlichkeit. Aber auch Frauen fällt es heute immer schwerer, Tränen zu vergießen. Doch Kummer, der sich nicht äußern oder ausdrücken lässt, bleibt im Inneren, hat die Tendenz, sich festzusetzen, zerstörerisch nagend, bohrend. Solche inneren Wunden heilen schlecht, vernarben kaum.

Deshalb ist es notwendig, dass Trauernde sich bewusst ihrem Schmerz stellen – auf welche Weise auch immer. Denn unsere Gesellschaft bietet nur noch wenige Stützen. Das Trauer-jahr, früher eine Konvention, war nicht nur Pflicht, sondern auch Hilfe. Schon allein die schwarze Kleidung bot Schutz in der Öffentlichkeit. Heute wird von Trauernden verlangt, dass sie bald wieder “ganz die Alten” sind, “normal” arbeiten und leben. Aber wie lebt es sich nach dem Verlust eines geliebten Menschen normal? Die Antwort fällt für jeden Menschen anders aus. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten von Reaktionen und Verhaltensweisen, die die Sterbensforscherin Elisabeth Kübler-Ross in ihren bekannten Büchern herausgearbeitet hat.

Verlust der Trauerkultur

von Diether Wolf von Goddenthrow “Mit dem Tod Leben”, S. 77 f.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte der Tod eines Menschen die Lebenswelt der ihn umgebenden Gemeinschaft Sterben und Trauer verband Menschen miteinander Bewußtes gemeinsames Erleben des Sterbens eines Menschen bot Gelegenheit bereits im Vorfeld des Trauerfalls miteinander ins Gespräch zu kommen und Anteilnahme zu nehmen Anteilnahme ins Angesicht des Todes, das verband. Man nahm sich Zeit und hielt inne, die Hinterbliebenen waren weder alleingelassen, noch hatten sie das Gefühl, durch ihre Trauersituation in eine Außenseiterrolle, wie heutzutage häufig der Fall, gedrängt zu werden. Trauer gehörte zum Alltag wie das tägliche Brot. Trauerrituale etwa das Tragen schwarzer Kleidung, signalisierte der Umwelt offen, daß hier ein Trauerfall vorlag.

Doch seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Trauerkultur radikal gewandelt. Zwar spricht das “Handbuch der praktischen Theologie” noch vom “kirchlichen Trauermonopol”, doch muß festgestellt werden, daß beispielsweise in Hamburg nur noch rund die Hälfte der Sterbenden um eine kirchliche Beerdigung mit Pfarrer bittet. Bei einem Drittel der Beerdigungen erledigt das ein bezahlter Redner, für rund sieben Prozent findet Überhaupt keine Trauerfeier statt, man spricht in der Branche vom “einfachen Abtrag“. Auch die rapide Abkehr vom Grabstein (jeder fünfte verstorbene Hamburger verzichtet darauf) mag ein weiteres Indiz dafür sein, wie sehr die überlieferten Bräuche und Formen der Trauer zerstört wurden.

Trauerfeiern sind schon lange kein Muß mehr. Auch der Gedanke, ohne Feier beerdigt zu werden, fördert die Verdrängung des Todes. So gibt es in Berlin Pfarrer, die bis zu 27mal im Jahr zur Beerdigung gebeten werden und mit dem Sarg und den Trägern allein bleiben, da kein Angehöriger mehr kam. Der Tod ist in unserer Gesellschaft weithin einsam geworden. Auch der unüberhörbare Verlust bürgerlicher Traditionen hinsichtlich der Wahl kirchlicher oder klassischer Trauermusik kennzeichnet eine zunehmende Trivialisierung des Abschiednehmens. Anstelle einschlägiger Trauermusik von Albinoni bis Vivaldi oder uralter Choräle werden immer häufiger Titel gespielt wie “Gute Nacht Mutter”, “La Paloma‘. “Yesterday” oder “Junge, komm bald wieder”. Gesungen wird auf Trauerfeiern kaum mehr. Die Sozialbeerdigungen (hier zahlt die Stadt Hamburg einen ziegelsteingroßen Grabstein) werden mit der Streichung des Sterbegeldes noch zunehmen. Der Verlust einer Trauerkultur verstärkt die Verdrängung des Todes, solange nicht ein neues adäquates Netz gefunden wird, das die Hinterbliebenen auffängt, damit sie die Trauer wieder ertragen lernen, damit sie eben nicht aus Angst und falschverstandenem Schamgefühl einer Beerdigung fernbleiben.

Früher war das anders, wenn auch nicht unbedingt immer besser. Wer wollte Wertmaßstäbe der Trauer festlegen. Doch Trauer fand statt. Trauer hatte ihren festen Rahmen und ihre besonderen Riten. Menschen trafen sich bei der Beerdigung am Grabe. Die Hinterbliebenen wurden nicht alleingelassen, denn der Tod und die Trauer waren, zumindest im ländlichen Raum, ein öffentliches, ein gesellschaftliches Ereignis. Betroffen war nicht nur ein einzelner, die Gemeinschaft als Ganzes war berührt. Nur allmählich kehrte der Alltag wieder, nahm das Leben seinen gewohnten Verlauf. Die moderne Arbeitsgesellschaft, oftmals ihrer ursprünglichen Trauerriten verlustig geworden, entdeckt erst allmählich die Trauer wieder, wie beispielsweise die Hospizbewegung, die zahlreicher werdenden Trauerseminare und Trauerselbsthilfegruppen zeigen. Diese Entwicklung haben wir Menschen, ob unmittelbar betroffen oder nicht, sehr nötig, denn wir haben verlernt zu trauern. Wir wissen oftmals kaum, was Trauern ist, wie Trauer wirkt und welchen Sinn sie bat.

Sinn und Stationen unserer Trauer

Trauer ist eine psychophysische menschliche Reaktion auf Verlust. Da alles Wandlung ist, müssen wir ständig mit Verlusten leben. Den Abschied von der “Zeit” vollziehen wir in jedem Augenblick, in dem wir sind. Denn alles, was jetzt geschieht, ist im nächsten Augenblick schon wieder Vergangenheit. Unsere Erfahrung der Unwiederbringlichkeit ist permanent und zwingt uns, mit Verletzungen und Schmerzen fertig zu werden. Die Natur hat den Menschen so ausgestattet, daß er mit Verlustkummer fertig werden kann. Wir können dank unserer angeborenen Fähigkeit alle Verluste und Trennungen prinzipiell bewältigen. Doch der moderne Mensch hat sich die Fähigkeit zu trauern abtraniert, da es unschicklich, unpassend, unproduktiv oder einfach lästig erscheint, seinen Trennungskummer offen zu bekunden. Mit fortschreitender Technisierung passen wir uns den Computern und Maschinen an, die weder zu weinen noch zu trauern vermögen. Wir erfahren schon als Kind, daß es besser ist, Gefühle nicht zu zeigen (z.B.: ein Junge weint doch nicht!) die zu unseren Nachteilen ausgelegt werden könnten.

Unsere und Vergessensstrategien machen uns leblos. Immer auf der Hut vor “Entdeckung”, versuchen wir unsere Trauer zu betäuben mit Drogen, Alkohol, Nikotin, Fernsehen oder Arbeit. Wir laufen weg vor unserem Schmerz, vor uns selbst. schauspielern uns und anderen etwas vor oder versuchen unsere Trauer beim “Jogging rauszuschwitzen“‘ Wissenschaftler wie der Psychosomatiker Alexander Milscherlich und viele andere später entdeckten in den vergangenen Jahren, daß wir für unsere “Unfähigkeit zu trauern” (A. Mitscherlich) einen hohen Preis zu bezahlen haben: Wir werden krank, körperlich krank, aufgrund seelischer Verstümmelungen Die Zunahme von Herz- und Kreislaufleiden, von Rheuma und Krebs sind einige Symptome, deren Ursachen man in erheblichem Maße in unserer Unfähigkeit zu trauern vermutet. Die Wissenschaft blieb uns bis heute drängende Antworten schuldig.

Die Fähigkeit zu trauern, ist die Bereitschaft den Verlust- oder Trennungsreflex, den Schmerz, wahrzunehmen, zuzulassen und auszudrücken. Die Fähigkeit zu trauern ist den Prozeß der Loslösung bewußt mitzutragen und zu vollziehen. Nur durch das bewußte Annehmen der Trennung ist eine Befreiung möglich, lösen wir den Schmerz, erhalten wir uns unsere von der Natur gegebene Vitalität.

Wenn es durch einen so einschneidenden Verlust wie den Tod eines Menschen zu starken Äußerungen der Trauer kommt, schämen wir uns vor uns selbst, statt froh über unsere natürliche Reaktion zu sein, froh darüber zu sein, daß wir trotz aller Reizüberflutung und beinahe perfekten Verdrängungs- und Vergessenheitsstrategien doch noch in der Lage sind, Gefühle zu haben und somit die Chance, zu uns selbst und dadurch zu einem erfüllten, da bewußteren Leben zu gelangen.

Selbsthilfe aus dem “Trauer-Desaster”

Wir trauern halbherzig., nehmen uns nicht die Zeit, da wir ja die Erwartungen unserer Umwelt erfüllen wollen. Helfende Trauerrituale fehlen zudem. Also geraten wir rasch in einen Teufelskreis mißlingender Trauer, in eine Stimmungsspirale, in der sich immer wieder die gleichen Gedanken in grüblerischen, selbstzermürbenden Eigendialogen drehen, ohne daß wir uns von ihnen lösen könnten. Vielleicht sollten wir uns in solchen, scheinbar hoffnungslosen Situationen folgendes einmal vor Augen führen:

Die Natur hat den Menschen so ausgestattet, daß er Trauer empfinden und ertragen kann. Trauer ist eine natürliche Reaktion unseres Organismus auf als Verlust empfundene Trennungen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen Trauer ist ein unverzichtbares psychophysisches Regulativ, um mit Verlusten fertig zu werden, um lebensfähig zu bleiben.

Trauer ist keine Krankheit. Sie ist nicht behandelbar. Deshalb kann es von außen keine medizinische Hilfe geben. Verdrängte Trauer kann aber krankmachen.

Trauer darf weder verdrängt oder betäubt werden, noch “heilt die Zeit die Wunden‘. Trauer muß durchschritten werden, um sie zu bewältigen. Gemeinsames Durchschreiten von Trauer in Selbsthilfegruppen oder bei Seminaren kann für eine konstruktive Trauerarbeit sehr hilfreich sein, da Betroffene sich gegenseitig unterstützen können, an ihren Schmerz heranzukommen und ihn zuzulassen. Trauer ist wertfrei, nie ist weder gut noch böse, sondern einfach lebensnotwendig, sofern sie nicht neurotisch entartet.

Trauer braucht Raum, Zeit, Wege und Mittel der Darstellung, das Gespräch, das Ritual, die Kunst, die Musik, das Schreiben oder anderes schöpferisches Tun, um an die Oberfläche zu kommen. Trauerarbeit geht einher mit einem hohen menschlichen Energiefluß. Jeder weiß, daß in Augenblicken der Trauer seine sonstige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist., da die Energie zur Trauerbewältigung benötigt wird. Eine bewußte Bewältigung des Kummers kann kreative und schöpferische Talente zum Neuanfang freisetzen, da gezielte Trauer hilft, die verdrängungsbedingten blockierten und gebundenen Lebenskräfte zu entfesseln.

Die Trauer zulassen

Aus “Ja” zur Trauer, heißt “ja” zum Leben, Hrg. Sönke Kriebel

Die Trauer zulassen

Traurig zu sein, gehört zu unserem menschlichen Leben genauso wie glücklich zu sein. Trauer – das ist eine normale, ja, im besten Sinne des Wortes sogar eine “alltägliche” Lebenserfahrung.

Allerdings: Für jeden einzelnen, von Trauer bewegten Menschen ist diese tiefe seelischen Erschütterung alles andere als alltäglich. Vielmehr wird Trauer als Ausnahme- oder Grenzsituation erfahren; sie gilt als “anormale” in dem Sinne, daß sie den vermeintliche normalen Lebensrhythmus stört. Die Folge dieses Verständnisses von Trauer als einem unnatürlichen Störfaktor ist der Versuch, die mit der Trauer verbundenen ganz unterschiedlichen Gefühle so in den Griff zu bekommen, daß sie das “normale” Leben eben nicht allzu sehr behindert. Doch längst wissen wir, daß wir ein Recht auf Trauer haben: unterdrückte, verdrängte Trauer macht krank – seelisch und körperlich. Und noch mehr: Traue dar nicht nur, sie muß erlebt, durchlitten und meist auch gezeigt werden.

“Trauer zuzulassen”, bedeutet daher auch, einen sehr schweren – aber viel häufiger, als in der Regel wahrgenommen, vorkommenden – Lebensabschnitt positiv zu gestalten; positiv für das Überwinden dieser Phase und für die “ neue Zeit danach”. Was heißt “trauern” in diesem positiven Sinn? Die Trauer ist ein Schmerz, der immer dann empfunden wird, wenn Menschen einen Verlust erleiden: der Tod eines nahestehenden Angehörigen, eines Freundes löst einen solchen Trauerschmerz aus. Grundsätzlich aber tritt Trauer keineswegs ausschließlich im Zusammenhang mit dem Tod auf.

Die heilende Funkton der Trauer wird heute oftmals weitestgehend übersehen. In Gegenteil gilt gerade demjenigen die allgemeine Anerkennung, der sein Traurigkeit verbirgt: So erscheint es erstrebenswert, sich am offenen Grab “tapfer zu halten”, sprich : nicht oder zumindest nicht laut zu weinen oder zuklagen. Auch ein Hinterbliebener, der “gefaßt” auf die Todesnachricht reagiert, erregt Bewunderung. In der Tat kommt Außenstehende eine solch verhaltene Reaktion gelegen: Trauernde, die mit ihren Gefühlen hinter dem viel beschworenen Berg halten – das heißt: die nicht offen weinen, klagen aggressiv und ungerecht sind, die nicht t- manchmal bis zur Erschöpfung des Zuhörers – über den verlorenen Menschen sprechen, Erinnerungen aufwärmen usw. , Trauernde also, die noch im Ausname fall von der Rücksichtnahme auf ihre Mitwelt bestimmt sind, wirken auf ihre Umgebung zunächst angenehm und “unproblematisch”. Doch weder dem Betroffenen selbst noch den Angehörigen, Freunden oder Gekannte hilft diese “Beherrschung” auf Dauer wirklich.

In anderen Kulturen, vor allem früheren Zeiten, wußten die Menschen um die Gefahren verdrängter Trauer ebenso wie um die Heilkraft von Riten, in denen Empfindungen oder Trauer ihren vollen Ausdruck fanden:

Das Kulturgut Trauer: Von ganzen Herzen klagen dürfen

Die Geschichte der Trauer ist so alt wie die Menschheit selbst. Zeugnisse für die Pflege umfangreicher Trauerbräuche sind eindrucksvoll in den Tempeln und Gräbern des Alten Ägypten dargestellt oder etwa in den Schriften altgriechischer Philosophen und Dichter. Die über Jahrtausende gepflegte Tradition der totenklage und die sich seit Jahrhunderten bewährende “Institution” der Klageweiber unterstreicht die Bedeutung durchlebter oder besser gesagt: aus-, “heraus” gelebter Trauer. Allerdings setzt die quasi öffentliche Pflege von Zeremonien wie der Totenklage ein Verhältnis zum Tod voraus, das heute kaum mehr auffindbar ist: ein offenes Annehmen des Todes – als Bestandteil des Lebens nämlich.

Im Gegensatz dazu zählt der Tod heute vielfach zu den gesellschaftlichen Tabus, zu den Themen also, “über die man nicht spricht”.

In unser vermeintlich hoch entwickelten, zivilisierten Kultur prägen die Ablehnung des Todes und das Nichtwahr-haben-Wollen seine letztendlich immer siegenden Übermacht auf die Art und Weis des Trauern. Die medizinischen Mitte, die der Mensch einsetzt, um den Tod auszuweichen, sind immens. So hochentwickelt die Gesellschaft des 20 Jahrhunderts mithin auf anderen Gebieten sein mag. das Kulturgut Trauer ist ihr verlorengegangen. “Von ganzen Herzen klagen zu dürfen” ist daher leider kein allgemein anerkannter Ausdruck von Trauerfähigkeit, aber: “Von ganzem Herzen klagen zu dürfen” ist ein notwendige Voraussetzung für die Bewältigung einer enormen seelischen Erschütterung.

Hiob, warum läßt Gott zu, daß es mir so schlecht geht?

Aus „Mit Menschen der Bibel Lebenskrisen überwinden
– zum Beispiel Hiob“

Wolfgang Hohensee

DHiober Mensch ist versucht oder besser gesagt, er ist geradezu gezwungen, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid zu finden. Dabei bedient er sich einer Vielzahl möglicher Antworten, die ihm gleichsam als rettender Strohhalm dienen sollen.

Ich kenne ein Elternpaar, das ihr vierjähriges Kind auf tragische Weise durch einen Verkehrsunfall verlor. Eine »fromme Tante« des Kindes versuchte die Eltern mit der Antwort zu trösten, dass Gott die, die er liebt, zu sich holt. Für mich kann das keine Antwort sein, sondern nur der nach Hilfe schreiende Versuch, auf die Sinnlosigkeit dieses Leides dennoch eine Antwort zu geben.

Bei Hiob sind es die so genannten Freunde, die aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommen und versuchen. Antworten zu finden. Für den einen ist es vollkommen klar, dass Hiob Schuld auf sich geladen hat, denn Gott würde niemals einen Gerechten mit Leid überschütten. Der zweite will Hiob davon überzeugen, dass sich am Ende sicherlich alles zum Guten wenden wird. In die gleiche Richtung tendiert der dritte Freund, der das Leid als Geheimnis Gottes deutet, dessen Sinn sich eines Tages enthüllen wird. Auch der später auftretende Elihu loht die Erhabenheit Gottes und wirft Hiob damit indirekt vor, sich selbst zu erheben, denn wer ist der Mensch, dass er mit Gott zürnen oder ihn anklagen dürfe?

Die übereinstimmende Antwort der Freunde lautet, dass Gottes Ordnung nicht anzutasten ist. Gott belohnt die rechtschaffenen Menschen, aber die Bösen werden bestraft. Die Freunde, die Ernst Bloch als »vier Glaubensspießer« betitelt, meinen es zwar gut mit Hiob, aber er ist nicht wirklich durch ihre Worte getröstet. Auch wenn die Antworten der Freunde verschieden sind, so sind es dennoch schlichte Antworten, die vom gleichen Gottesbild geprägt sind. Übereinstimmend vertreten sie die traditionell-religiöse Antwort auf die Frage, warum Gott einen rechtschaffenen Mann wie Hiob so quält: »Gott vergilt dem Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach seinem Tun.» Dahinter steckt der Gedanke, dass Leid immer eine göttliche Strafe für begangene Schuld bedeutet. Wo immer ein Mensch leidet, ist das die Folge menschlicher Schuld. Diesem Erklärungsmuster folgen bis heute viele Menschen, denn immer wieder ist zu hören, dass Menschen im Leid fragen: »Was habe ich denn falsch gemacht?« Doch was für  ein Glaube ist das? Welchen Fehler haben Menschen begangen, die in der Sahel Zone oder in den SIums von Rio de Janeiro tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen? Welche Schuld soll ein Kleinkind auf sich geladen haben, das an einer schweren Krankheit stirbt? Unter echter Anteilnahme von Freunden verstehe ich, einem leidenden Menschen durch Nahebringen und Zuspruch von Gottes Eigenschaften zu rechter Selbsterkenntnis zu helfen, anstatt ihn mit falschen Gottesbildern zu falschen Selbsteinsichten zu führen.

Hiobs Freunde halten an ihrem Gottesbild (mehr zum Begriff Gottesbild) fest und immer wieder muss er seine Unschuld beteuern. Es sind oft die falschen Freunde, die einen Menschen im Leid mit schnellen Erklärungsversuchen zu trösten versuchen. Dies ist aber kein echter Tost, sondern eine Vertröstung. Hiob kann und will die Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit des Leides nicht aushalten. Er merkt dabei nicht, dass er sich nach dem gleichen Muster vom gerechten Zusammenhang von Tun und Ergehen verhält: Wenn Hiob sich unschuldig fühlt, so muss im Umkehrschluss Gott an dem Leid schuld sein. Hiob möchte Gottes Handeln verstehen, aber er kann es nicht. Die Freunde haben keine befriedigende Antwort und deshalb lässt Hiob nicht locker und schleudert Gott selbst seine Fragen an den Kopf:

Bin ich gewandelt in Falschheit, oder ist mein Fuß geeilt
zum Betrug?… Ist mein Gang gewichen vom Wege und
mein Herz meinen Augen nachgefolgt und blieb etwas
hängen an meinen Händen?… Hat sich mein Herz betören
lassen um eines Weibes willen und hab ich an meines
Nächsten Tür gelauert?… Hab ich missachtet das Recht
meines Knechts oder meiner Magd, wenn sie eine Sache
wider mich hatten?
Hiob 31,5.7.9.13

Immer wieder beteuert Hiob seine Unschuld: »An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht; mein Gewissen

Also warum wollte Gott den Tod der Menschen am 11. September? Warum wollte er den Tod der 71 Menschen bei der Kollision zweier Flugzeuge? Warum der Tod eines Kindes? Wenn nach christlicher Schöpfungstheologie Gott in allem wirkt, so muss er doch auch in den Katastrophen wirken, so denken und fragen viele Menschen.

Diese Theodizeefrage, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der grausamen Weltwirklichkeit, führt aber nicht weiter. Sie bleibt unbeantwortet und deshalb ist nach 1945 der Satz gefallen, dass man nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben könne, gerade weil er nicht eingegriffen habe. Gott schweigt und weitere Katastrophen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Brände, Flugzeugabstürze und Morde werden geschehen. Gott wird durch unser Fragen nach dem Warum mit einer falschen Wirklichkeit verbunden. Wenn Gott in einen kausalen Zusammenhang mit all dem Leid gestellt wird, dann können die Antworten nur in die Irre führen. Gott ist weder mächtig noch ohnmächtig, sondern er ist, wie er ist, und was Hiob mitgeteilt wird, setzt den Menschen herab und ordnet ihn neben die unfassbare Natur.

Aber dennoch spricht Gott mit Hiob und damit zu uns Menschen von heute. Gott vertröstet nicht, sondern korrigiert und bleibt in Gemeinschaft mit Hiob. Gott hatte auch andere Fragen an ihn richten können, denn wenn wir im Nachdenken über das Leid von der menschlichen Abwendung von Gott ausgehen, so müssen wir feststellen, dass Gott den Menschen zum Leben und nicht zum Tode geschaffen hat. Der Mensch ist es, der dem Menschen Leid zufügt. «Homo homini lupus«, heißt es in einem lateinischen Sprichwort, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Gemeint ist, dass der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch selbst ist. Dann lautet die Frage nicht mehr, wie Gott das Leid zulassen kann, sondern wie die Geduld Gottes zu rechtfertigen ist, mit der er den friedlosen Menschen noch immer Raum, Zeit und Kraft gibt, ihr Unwesen zu treiben.

Hiob zeigt sich von Gottes Antwort tief beeindruckt. Indem er erfährt, dass Gottes Horizonte größer sind als die der Menschen, legt sich sein Ärger und er bekennt, selbst zu gering zu sein, um auf die Erhabenheit Gottes antworten zu können. Hiob gibt Gott schließlich Recht. Er wendet seinen Blick von sich weg und erlebt Gott in neuer Weise:

Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen;
aber nun hat mein Auge dich gesehen.
Hiob 42,5

Dieses Bekenntnis ist nicht als Niederlage zu verstehen, sondern es ist die überwältigende Erfahrung der Nähe Gottes. Auch wenn die Antwort Gottes nicht der Frage Hiobs entspricht, so ist sie dennoch eine Antwort. Gott hat zu Hiob gesprochen und ist aus seinem Schweigen herausgetreten.

Hiob erkennt die Unverfügbarkeit des menschlichen Daseins an. Sowohl in der Ordnung als auch in der letzten Undurchschaubarkeit ist Gottes Gegenwart zu finden. Hiob lässt sich ganz neu ohne Voraussetzungen und Bedingungen auf Gott ein. Gott ist weder ein Gott der Strafe noch ein Gott des Schutzes, sondern Gott ist ein Gott, der frei ist.

Den weisheitlichen Traditionen entspricht es, dass die Spuren in Gottes Walten in der Schöpfung zu finden sind. An Hiob ist abzulesen, wie Gott in seiner unergründlichen Weisheit handelt, ohne dass der Mensch dieses Handeln erkennen, berechnen oder manipulieren kann. Hiob soil erkennen, dass er auch im Leid auf Gottes Gegenwart und Führung vertrauen darf.

Wie immer hat jeder selbst die Wahl, wofür er sich entscheidet: Leid oder Chance? Das Ziel bleibt dasselbe! Hiob hat sich für die Chance entschieden, indem er alte Gottesbilder über den Haufen warf. Darin ist er für mich zum Mut machenden Vorbild geworden. Ich brauche die Erfahrung, dass es geht, dass es nie ein »Zu Spät« gibt. Krisen – egal wie tief sie uns führen – bergen Veränderungen in sich, die mich dazu führen können, zu wachsen und glücklich zu werden. Der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Franki, sagte: »Es gibt kein menschliches Wesen, das nicht mit Leid, Tod und Schuld konfrontiert wird – einmal als Opfer, einmal als Täter!« Wäre es nicht an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und die Stärke zu wählen, sich nicht vor Krisen zu drücken, sondern Lösungsmöglichkeiten zu suchen? Oie Krise lässt uns die Trostlosigkeit erblicken, aber ich selbst entscheide, ob ich um mich schlage und den Halt verliere oder ob ich mich dem Neuen, das auf mich zukommt, stelle. Ich möchte neue Schritte wagen, bereit sein, auch schmerzliche Veränderungen in Kauf zu nehmen.

An der Hioberzählung erkenne ich, dass der Mensch trotz seines Leids zu einem größeren Ganzen finden kann. Hiob sucht eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid. Nur die Liebe vermag die Sinnlosigkeit von Leid in Frage zu stellen. Hiob findet zu dieser Liebe zurück, indem er die Frage nach dem Leid zu der Frage nach dem Sinn des Lebens verändert. Für Leo Tolstoi, der in eine Lebenskrise geraten war, keimte neue Hoffnung in seiner Verzweiflung auf, als er eines Tages allein durch den Wald ging. Er beschreibt, wie er begonnen habe, über sein Leben und über das nachzudenken, was größer war als sein Leben, aber noch unentdeckt. Das Fehlen dieses größeren Elements war die Quelle seiner Verzweiflung. Inmitten der Natur des Waldes suchte er in sich selbst nach diesem Gefühl für etwas Größeres. Nach dieser Erfahrung schrieb Tolstoi: »Die Dinge in mir und um mich herum wurden klarer denn je, und das Licht ist nie wieder erloschen. Wie es zur Veränderung kam, kann ich nicht sagen. So unfühlbar und allmählich, wie die Lebenskraft in mir erstorben war und ich mein moralisches Sterbebett erreicht hatte, so allmählich und unmerklich kam die Lebensenergie zurück.«

Vielleicht ist diese Erfahrung ähnlich wie bei Hiob, der Gott in ganz neuer Weise erleben durfte. Gott war plötzlich mit den inneren Augen sichtbar. Gott war das Leben selbst, und es war Hiob plötzlich ganz nähe. Immer wieder können wir am Beispiel anderer Menschen ablesen, dass die Krisen zu- gleich die großen Lehrmeister sind, die helfen, uns selbst als Teil des Ganzen zu verstehen, uns selbst in unseren noch so schweren Momenten nicht immer als Mittelpunkt zu sehen. Paul Tillich nennt dies den »Mut, Teil zu sein«, und meint da- mit: sich selbst trotz der vielen erlebten Unterdrückungen, Abwertungen und Vernachlässigungen als wichtigen Teil eines lebenden Organismus zu begreifen, einen Teil, auf den es ankommt.

Wenn ein Mensch gestorben ist – wie gehen wir mit dem Toten um? (Rituale)

TauschBickelnDaniela Tausch-Flammer, Lis Bickel S. 181 ff.

In der gegenwärtigen Zeit haben aber viele Menschen den Zugang und das Verständnis für die traditionell gepflegten Rituale und kultischen Handlungen im Rahmen der Kirche verloren. Die Traditionen und die mit ihnen verbundene Geborgenheit haben sich vielerorts besonders in großstädtisch Bevölkerungskreisen immer mehr aufgelöst. Damit ist Entfremdung zwischen uns und den kultischen Handlungen eingetreten und das damit verbundene Gefühl des Befremdlichen ihnen gegenüber.

Andererseits können wir aber auch festzustellen, daß es in vielen Menschen ein neu erwachte Sehnsucht nach ebendiesen und erfüllten Ritualen gibt.

Das bedeutet: daß es einerseits zu einer Erneuerung des Verständnisses von Ritualen und andererseits ein erneuertes Bewußtsein von seiten deren geben sollte, die kultische und rituelle Handlungen vollziehen.

Wir erleben oft, daß gerade in solchen Zeiten tiefer Erschütterung, wie sie Sterben und Tod mit sich bringen, die Sensibilität für Echtheit und Tiefe und die Aufnahmefähigkeit für die heilende“ Wirkung solcher Handlungen besonders gesteigert ist. Das heißt also, daß rituelle Handlungen auch in der Zukunft hilfreich, sinnstiftend und ordnend sein und damit Kraft und wirklichen Trost spenden können, wenn sie erfüllt und wahrhaft mitvollzogen werden. Wir meinen, daß Trauer und wirkliche Verzweiflung nicht durch Zeremonien und Traditionen zugedeckt und verdrängt werden sollten, daß durch sie nicht eine Verpflichtung entstehen sollte, ,,tapfer zu sein“ oder ,,getröstet“ wo dieses noch gar nicht sein kann oder sogar Drohungen von Strafe, Verdammnis, Schuld und Sünde uns nicht noch zu unserer ohnehin schon schweren Last des Verlustes auferlegt werden. Glauben darf nicht gleichgesetzt werden mit einer unechten Haltung, die meint, daß der Schmerz ja gar nicht so groß sein dürfe. Vielmehr wünschen wir, daß es uns wieder vermehrt gelingt, religiöses Handeln und Erleben so zu gestalten und zu erfahren, daß wir in ihnen eine ganzheitliche Ordnung und Geborgenheit empfinden und erfahren können. Eine Ordnung, in der wir uns trotz unserem Schmerz, unserer Wut, unserer Trauer und der Vielfalt unserer Gefühle aufgehoben erleben. Wir wünschen uns eine zukünftige Gestaltung der Bräuche und Rituale, die aus echtem Empfinden kommt und vollzogen wird und uns behutsam zu Vorstellungen des nachtodlichen Seins hinführt und uns Handlungen zeigt, die uns in die geistig-seelische Nähe der Verstorbenen bringen können.

Der ursprüngliche Sinn ritueller Handlungen war der, daß Menschen durch solches Tun ihren Hoffnungen, Wünschen, Angsten, Gefühlen und Gedanken Ausdruck geben konnten, sie verdichteten, ihnen Form gaben und sie erhöhten. Profanes und Alltägliches wurde in einem erhöhten, besonders klaren und liebenden Bewußtsein vollzogen. Sie wurden in einer ganz und gar aufmerksamen und zugewandten Art und Weise ausgeführt, das heißt zelebriert. Die so ausgeführten Handlungen verändern sich in ihrem Charakter und werden zu kultischen Handlungen. Dadurch, daß Handlungen auf solche Weise vollzogen werden, kann sich das ursprünglich nur chaotische, schmerzhafte Empfinden klaren und ordnen und eine heilende Form des Ausdrucks finden.

Ritus und Kult schenken uns die Verbindung zum Heilenden und Heiligenden in uns und außerhalb von uns.

Viele Menschen mag die Frage bewegen, was denn eigentlich Heilung oder auch Linderung bewirkt. Darüber hinaus beschäftigt uns vielleicht die Frage, welche Bedeutung die Rituale, über uns selbst hinaus, denn tatsächlich auch für den Verstorbenen haben. Was können wir über diese Vorgänge und Kräfte, über die Wirkung solch kultischer Handlungen in heutiger Zeit verbindlich aussagen?

Rituelles und sakramentales Geschehen haben immer eine Dimension, die sich auf den religiösen, kosmischen, übersinnlichen, spirituellen Zusammenhang ausrichtet. Das bedeutet, daß Menschen, denen ihr Eingebettetsem in ein höheres, sinnvolles Ganzes nicht mehr zugänglich ist, eben auch von der inneren Bedeutung kultischer oder ritueller Handlungen entfremdet sind.

Andererseits können wir immer wieder feststellen, daß Menschen, die in das Erleben von Sterben und Tod gestellt sind, oft einen ganz neuen Zugang, eine ganz neue Öffnung zum Religiösen, Spirituellen erleben. Manchmal kann es sogar geschehen, daß Menschen durch solche Handlungen, die in große Liebe und Bewußtheit vollzogen werden, wieder eine Ahnung einer religiösen Dimension erfahren.

So sagte uns eine Mutter, die durch die areligiösen Lebensgewohnheiten der ehemaligen DDR geprägt war, nach einer Feierlichkeit für ihren an Krebs Verstorbenen Sohn:

,Ich spürte plötzlich so etwas Besondeies im Raum, und ich hatte das Gefühl, daß Ralph an all dem, was da geschah, teilnahm und er dadurch bei uns war.“

Im Ritual werden an und für sich unsichtbare Kräfte durch Worte im Gebet, Körperhaltungen, Düfte zum Ausdruck gebracht, oder es wird darum gebeten, daß diese unsichtbaren, geistigen Kräfte zur Entfaltung und Wirkung kommen mögen. Das, was unsichtbar erscheint, kann durch Handlung etwas in die Sichtbarkeit kommen. So kann zum Beispiel das Bitten und das Empfangen durch Gesten lebendig werden, Verehrung kann sich durch eine bestimmte Körperhaltung ausdrücken, Kraft und Segen kann empfangen und gespendet werden, und innerlich Erlebtes, Gefühle, Lasten und Fragen können ausgedrückt oder überantwortet werden.

Im rituellen Geschehen ist oft das Element der Wiederholung enthalten. Wir können dann erleben, daß bewußt Wiederholtes und wiederholt Erlebtes uns ein starkes Gefühl der Ordnung, des Schutzes und der Geborgenheit vermitteln. Andererseits erfahren wir, daß Inhalte, die mit Hingabe wiederholt vollzogen werden, immer neu und verändert erscheinen, daß das eigentlich Wirkende sich auf immer neue Weise in ihm ereignet. Das regelmäßig Wiederholte erfahren wir dann als verwandelnd und heilend.

Der Zugang zu neuen Ritualen

Manchen Menschen entspricht es, daß sie in der Begleitung eines Verstorbenen nicht mehr auf die herkömmlichen Brauchtümer und Traditionen zurückgreifen möchten. Sie wollen entweder neue oder auch persönlichere Formen des Handelns für sich finden. Wir wünschen uns, daß wir durch die folgenden Abschnitte solchen Menschen, die für ihre Verstorbenen und auch für sich selber neue Rituale und zeremonielle Handlungen vollziehen möchten, Mut und einige Anregungen geben können.

Durch diese ,,Zurücknahme“ solchen Handelns in die Kraft der eigenen Gestaltung wird einerseits ein Großteil der Entfremdung gegenüber Ritualen und die Tabuisierung gegenüber Sterben und Tod überwunden, andererseits kann es den Hinterbliebenen ein Gefühl tiefer Befriedigung schenken, das ihnen auch im Prozeß der Trauer hilft.

Auf der Suche nach solchen Formen haben wir eine noch gar nicht ausgeschöpfte Quelle in den Bräuchen und Traditionen anderer Völker und Kulturen. Da gibt es die Sitte:

  • den Toten selber zu richten und zu schmücken;
  • Sarg- oder Grabbeigaben mitzugeben;
  • die Totenwache auf eine gemeinschaftlicher Art und Weise durchzuführen, wie zum Beispiel mit den Mitbewohnern eines ganzen Hauses;
  • die Feierlichkeiten auf unterschiedlichste Weise zu gestalten;
  • das Niedersenken des Sarges selber zu übernehmen;
  • das Grab selber zuzuschaufeln;
  • das Grab gemeinschaftlich zu schmücken;
  • besondere Essenszubereitung;
  • und andere Formen eines längeren Beisammenseins und Begleitens in den Tagen nach der Beisetzung.

Paul Tillich schreibt in seinen Religionsphilosophischen Schriften:

Kultus ist die Inbegriff derjenigen Handlungen, durch die das Unbedingte (das Ewige Göttliche – Transzendente /Anmerkung der Verfasserinnen) im Praktischen realisiert weiden. Alles religiöse Handeln ist kultisches Handeln. Religiöses Handeln aber ist gläubiges Handeln, Alles gläubige Handeln ist darum kultisches Handeln!…

Für den Glauben kann es keinen (!) praktischen Akt geben, der nicht durch ein Symbol hindurch auf das Unbedingte gerichtet wäre…

Der Kultakt ist nichts als die höchst konzentrierter Form gläubigen Handelns“ (Paul Tillich, Hauptwerke Band 4).

Wir möchten das für uns in folgender Weise ausdrücken:

Jede Handlung kann zu einer kultischen Handlung erhoben werden.

Um eine profane Handlung zu einer kultischen Handlung werden zu lassen, bedarf es:

  • der Gerichtetheit auf das  Göttliche,
  • die konzentrierte Hingabe an das Geschehen
  • und die Reinheit der Motive un der Ausführung.

Wenn wir in dieser äußeren und inneren Haltung Handlungen vollziehen, haben sie einen kultisch-rituellen Charakter.

Alle Beteiligten sollten solche Rituale mit wachem und liebenden Herzen vollziehen oder nachvollziehen, dann werden sie selber die Bedeutsamkeit und Kraft eines solchen Tuns erfahren. Das kann für einen einzelnen Menschen gelten oder auch für eine Gruppe von Menschen, die sich in diesem gemeinsamen Anliegen miteinander verbinden. Das ganz persönliche Erleben kann in solch gemeinschaftlichem Tun als eine uns allen gemeinsame Lebenserfahrung erlebt werden, damit kann der eigene subjektive Schmerz als ,,normal“ allen Menschen gemeinsam, eingebettet, erlebt und verstanden werden. Auf diese Weise kann das Leiden ein Stück weit begreifbarer werden.

Alles, was einen Weg des Ausdrucks, eine Form oder Gestaltung findet, erfährt damit schon Wandlung im Sinne von Heilung.

Inwieweit solche rituellen Handlungen unsererseits auch für den Verstorbenen ,,positiv“, das heißt hilfreich und wichtig sind, kann in solchen Situationen ahnend erfahren werden. Wir haben dann vielleicht in unserem eigenen Inneren das Erleben, daß etwas ,,lichter“ oder ,,leichter“ um den Verstorbenen wird, oder wir haben möglicherweise das Gefühl, daß sich etwas Fehlendes zu einem Ganzen schließt, abrundet und vollendet. Wenn wir den Verstorbenen sowohl in seiner Lebensgeschichte als auch in der Tiefe seines Wesens kannten, können wir in solchen Handlungen eine Übereinstimmung mit seinen Wünschen erahnen, oder wir erleben, daß wir in uns das ganz deutliche Gefühl haben, noch etwas in seinem Sinne für ihn vollzogen zu haben.

Predigt aus dem Gottesdienst Zwischenhalt „Abschiednehmen“

vom 19.11.2006 St. Paulus (Buchholz i.d.N.)

Abschiednehmen06
Pastorin Bürig

von Pastorin Christiane Bürig

Liebe Gemeinde,

das Leben besteht aus Abschieden. Ich denke zunächst an die vielen kleinen Abschiede im Alltag. Wie oft sagen wir Tschüß! Oder: bis Morgen!

Und es gehört auch mancher endgültige Abschied dazu, ich denke jetzt noch gar nicht an den Tod. Auch das Leben bringt endgültige Abschiede: Trennungen von Paaren, Freundschaften, die im Sande verlaufen, Nachbarn, die wegziehen. Für viele der älteren Generation der Abschied von der Heimat und ihren vielen Gesichtern durch die Flucht.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Irgendwann ist es das erste Mal der Tod eines nahen Menschen.Irgendwann ist da unser eigener Tod, Abschied vom Leben auf diesem wunderschönen Planeten mit den Tautropfen auf dem Gras, dem Baumrauschen und den Menschen, die wir lieben.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Pastorin Christiane Bürig

Daß der endgültige Abschied Tod in unserer Gesellschaft weggeschoben und an den Rand gedrängt wird, ist ein Phänomen, das oft besprochen wurde. Bestatter fahren in grauen Wagen, wir sprechen von „entschlafen“ oder „eingeschlafen“, gestorben wird im Krankenhaus, oft auch, wenn es die Situation überhaupt nicht erfordert hätte. Die Medizin hat den Tod soweit hinausgeschoben wie möglich, so weit, daß einem Angst und Bange werden kann und wir mit Patientenverfügungen reagieren. Die sollen sicherstellen, daß wir irgendwann dann auch mal sterben dürfen.

Der endgültige Abschied Tod wird an den Rand gedrängt. Wir sehen es auch daran, wie unsere Rituale um Sterben und Tod verdorrt sind. Die Bestattung im engsten Kreise – selbst da wo ein Verstorbener mitten im Leben stand… sollen Nachbarn, Freundeskreis, Kollegen keinen Abschied nehmen dürfen?

Die anonyme Bestattung – wir leben doch auch mit einem Namen, warum dürfen wir nicht mit einem Namen sterben? Angehörige, Bekannte werden des Ortes beraubt, an dem sie weinen, Zwiesprache halten oder einfach sich besinnen können.

Oder die Tatsache, daß viele Familien ihre Kinder nicht mit zur Beerdigung nehmen, obwohl die es gerne würden – noch nicht einmal zum Abschied von Großeltern, die sie doch lieb hatten. Auch ein Kind hat eine Recht aufs Abschiednehmen.

Der Tod verdrängt – wir sehen es auch daran, wieviel Wissen über Trauerprozesse verloren gegangen ist.

Wieviele Witwen haben mir erzählt, daß sie ihren Mann als anwesend fühlen, nicht sichtbar, aber wahrnehmbar anwesend in der Wohnung, wie ein Schatten jenseits des Blickfeldes – und jede dachte, jetzt wird sie verrückt. Dabei scheinen solche Erfahrungen zum Trauern dazu zu gehören. Oder daß wir immer vom „Trauerjahr“ sprechen, als sei es dann geschafft. Dabei scheinen Trauerwege eher eine Art Spirale zu sein, wo man immer wieder an die gleichen Punkte kommt: Weihnachten, Hochzeitstag, nach Jahren noch die gleiche Traurigkeit, nur daß sie im Laufe der Zeit schneller zu bewältigen ist.

Oder daß wir immernoch vom „loslassen“ reden. Niemand kann einen geliebten verstorbenen Menschen loslassen. Es muß sich nur die Art der Beziehung ändern zu einer verinnerlichten Form des Kontakts.

Der Tod verdrängt – wieviel Unsicherhiet das mitsichbringt: wie sollen wir Trauernden begegnen? Wie sollen wir Sterbenden begegnen? Aus Angst vor unseren Gefühlen, treten wir die Flucht an.

Uns fehlt eine Kultur des Sterbens und des Trauerns. Das Wissen früherer Zeiten ist verloren gegangen. Ein neues, in unserer Zeit passendes Wissen muß erst noch entwickelt werden.

Solange wir auf der Flucht sind, vergrößern wir das Leid. Das Leid der Betroffenen, und unser eigenes.

Eines müssen wir uns dabei klar machen: Es wird so tausend- und abertausendfach gestorben auf der Welt. Gewalt ist im Spiel und Hunger und Verwahrlosung, ungerechte Strukturen, verseuchtes Trinkwasser und Krieg… wie oft ist da überhaupt keine Gelegenheit, mal eine Hand zu halten. Wir haben zur Zeit in unserer Gesellschaft das große Glück, daß die Not nicht über uns zusammenbricht, sondern daß Spielraum da ist, daß wir die Möglichkeit haben, uns um Sterbeprozesse zu kümmern…Wir sollten diese historisch und global betrachtet glückliche Lage nutzen und es für die sterbenden Menschen gut machen!

Wie das aussehen kann – dafür hat die Hospizbewegung zwei zentrale Antworten. Denn was ist die größte Angst, wenn wir an unser Sterben denken?

Daß wir Schmerzen leiden müssen. Die Medizin kann Schmerzen inzwischen sehr, sehr gut und auf den Patienten zugeschnitten verhindern. Auf dieses Thema wurde sie von der Hospizbewegung angesetzt und hat große Erfolge erzielt.

Die zweitgrößte Angst ist: Einsam zu sterben. Auch darauf hat die Hospizbewegung eine Antwort, wenn entweder Sterbende Zuhause von ehrenamtlichen Sterbebegleitern aufgesucht werden oder wenn sterbenden Menschen in einem Hospiz begleitet werden.

Für mich ist die Hospizbewegung schon eine Antwort auf die Tabuisierung des Todes in der Gesellschaft und eine Trendwende.

Wir fangen an, wieder dahin zu schauen.

Ein Hospiz ist mehr als ein Ort zum Sterben. Es ist ein Zentrum, das sein Wissen und seine Erfahrungen ausstrahlt. Die Angehörigen, deren sterbender Mensch im Hospiz lebt, werden zugleich entlastet – was die Pflege angeht – und herangeführt – was die Begleitung angeht. Ein Lern – und Erfahrungszentrum zum Thema Abschied nehmen. Nach und nach können immer mehr Menschen von der Tabuisierung und Überforderung zu einer Kultur des Sterbens und des Trauerns finden. Zu einer Kultur des Abschieds.

Und indem wir tiefer dahineinschauen, stellen wir plötzlich fest: Indem wir mehr über den Tod und den Abschied und das Trauern lernen, lernen wir mehr über das Leben!

Am besten kann ich das an einer eigenen Erfahrung zeigen. Der Tod gehört nämlich immer mit in  mein Leben. Mein Vater starb relativ früh – und in meinem Beruf geht es ja jede Woche um Trauern und Abschied. Und ich dachte eine ganze Zeit, daß ich damit ganz gut versöhnt sei. Bis ich einen 34-Jährigen zu beerdigen hatte. Und ich war da gerade 34. Das war etwas anderes. Und ich dachte: O.K., jeden Tag, den ich ab jetzt habe, habe ich mehr als er. Was mache ich denn damit? Und plötzlich war mir klar: Tod und Leben gehören zusammen, nicht nur so, daß der Tod eben das Leben begrenzt, sondern so, daß er es intensiviert, Vertieft. Überhaupt als wertschätzendes Leben ermöglicht.

Erst wenn ich die Grenze anerkenne und fühle, kann ich fragen, was innerhalb dieser Grenzen geschehen soll. Qualität des Lebens! Und dann auch des Sterbeprozesses. Vielleicht gerät die Frage nach der Länge des Lebens sogar in den Hintergrund angesichts der Frage nach der Qualität. Im Hospiz jedenfalls geht es nur noch um diese Qualität. Leben ganz im Jetzt, wo man über die Zukunft und die Länge nichts Hoffnungsvolles mehr sagen kann.

Insofern ist das Hospiz nicht nur ein Modell für das Sterben, sondern auch ein Modell für das Leben. Intensiv. Im Jetzt. Ehrlich. Verbunden mit den Gefühlen.

Das Leben besteht aus Abschieden. Trotzdem den Tod verdrängen? Das hat sich nicht bewährt. Weder für Sterbende, noch für Trauernde. Noch für das Leben mit seiner Qualität selbst. So fangen viele Menschen langsam wieder an, sich den Gefühlen zu stellen. Und machen die Entdeckung, daß das Hinschauen, das Nichtfliehen, daß das bereichert.

Wie in unserer Geschichte. Nur wenn wir die Traurigkeit, den Schmerz wirklich fühlen, geht es weiter. Das hilft. Das verbindet mit anderen. Das vertieft. Das läßt uns das Leben wertschätzen. Nur durch die Traurigkeit, den Schmerz hindurch geht es weiter, nicht daran vorbei. Es ist wie wenn wir durch die Traurigkeit hindurchtauchen, oder wie wenn wir den Schmerz austrinken… Der Traurigkeit ins Auge schauen – dann entsteht neue Hoffnung. Dann entsteht neue Daseinsfreude. Dann entsteht Qualität im Leben.

Das Leben besteht aus Abschieden. Was über diese Gedanken vom Glauben her hinaus noch zum Thema Abschied zu sagen ist, bringt das nächste Lied wunderbar zum Ausdruck, wie ich finde.

„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen”

Pfarrer Dr. Jürgen Wätjer
NDR 2 Moment mal
Samstag, 19. Juli 2003

Das ist eine besondere Erfahrung von Eltern: Wenn sie ihr Kind einige wenige Male angeschaut haben, stellt sich ein Gefühl ein: „Wir haben dieses kleine Gesicht schon immer gekannt. Wir können uns nicht mehr vorstellen, nicht zu wissen, wie unser Kind aussieht.“

Ähnlich ist es mit dem Namen. Die meisten Eltern haben sich schon vor der Geburt überlegt, welchen Namen sie ihrem Kind geben wollen. Und wenn sie es dann zum ersten Mal friedlich bei sich schlafen sehen, und zum ersten Mal seinen Namen aussprechen, sind sie dabei ganz leise und vorsichtig – fast so, als wollten sie testen, ob der Name auch zu ihm passt.

Das kleine Gesicht bekommt in diesem Moment einen Namen. Oder auch umgekehrt: Der Name bekommt ein Gesicht. Als Kind lernt der Mensch immer mehr, auf seinen Namen zu hören. Später stellt er sich mit diesem Namen vor. Er unterschreibt damit Brief und Dokumente. Er möchte, dass es „sein guter Name“ bleibt.

Christen gehen davon aus, dass auch Gott den Menschen bei dem selben Namen ruft, den seine Eltern ihm gegeben haben. In der Bibel sagt Gott zum Volk Israel:

„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst mir.
Du bist in meinen Augen teuer und wertvoll. Dich liebe ich.“

Ich finde, das ist ein schönes Wort im Jahr der Bibel! Was Gott damals vor 2500 Jahren zu seinem ganzen Volk sagte, das spricht er auch heute zu jedem Einzelnen. Er ist von Gott persönlich gerufen und gemeint.