Wolfgang Hohensee
Was sind Krisen?
Es gibt kein Leben ohne Krisen. Krisen markieren oft einen Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Sie sind Zäsur, Grenze und bieten trotz allem die Möglichkeit des Wachstums. Krisen bewirken Bewegung im Leben eines Menschen. Innere Wandlung und Veränderung sind oftmals Resultat einer überwundenen Krise.
Krisen machen uns Menschen oft fassungslos. Verbunden ist dieses Gefühl meist mit Angst, Schmerz oder Unsicherheit. Wohin wird mich die Krise führen? Es gibt Krisen, die uns Menschen völlig überraschend treffen, wie etwa der plötzliche Tod eines Menschen, aber daneben gibt es viele Krisen, die lange »vorbereitet« wurden, auch wenn uns das mehr oder weniger nicht bewusst war. Ich glaube, dass wir den Kurs auf viele Krisen selbst festlegen, denn ob unser Leben gelingt oder nicht, ist wesentlich davon abhängig, welche Entscheidungen wir für unser Leben treffen.
Krisen sind oft endgültige Wendepunkte, die auf eine Veränderung unseres Lebens weisen. In der Krise wird mir der Schutzmantel genommen, der sich wie eine unsichtbare, oft störende Hülle über mein Leben gelegt hat. Ich kann nun nicht mehr weglaufen, sondern muss schmerzhaft erkennen, dass ich aus meiner bisherigen so sicher wirkenden Bahn geraten bin. Es ist, als ob wir uns in einem Tunnel befinden, in dem wir noch kein Licht erkennen können. Wir sehen keinen Ausweg, fühlen uns gefangen, spüren Schmerzen und möchten fliehen, verdrängen, vergessen oder gar sterben. In der Krise werde ich aber auch tieferen Schichten meines Lebens ausgesetzt und es bietet sich mir die Möglichkeit, mich selbst mit den tieferen Wahrheiten meines Lebens zu konfrontieren, mit ihnen in Kontakt zu treten. Mein Verdrängungsmechanismus und die große Macht der Gewohnheit funktionieren nicht mehr. Ich bin nun eher in der Lage mich und meine jeweilige Situation wirklich realistisch zu betrachten und zu überdenken. Wohin uns das letztlich führt, wissen wir mitten in einer konkreten Krise natürlich noch nicht – aber wir selbst haben großen Einfluss darauf, ob sie sich auf uns und unser Leben am Ende positiv oder negativ auswirkt.
Das Wort »Krise« ist aus dem Griechischen mit der Bedeutung »Scheidung, Entscheidung, trennen« entlehnt. Es war zunächst ein Fachwort der Medizin, das den entscheidenden Punkt einer Krankheit bezeichnete. Seit der Antike ist das Wort Krise die medizinische Bezeichnung für den Zeitpunkt einer Krankheit, in dem sich sowohl eine Wendung zum Guten als auch zum Fatalen vollziehen kann. Dies bedeutet, dass der Ausgang von Krisen offen, eine Wandlung zu beiden Seiten also durchaus möglich ist. Kritische Situationen, Gefahren, Nöte, Leid, Elend oder Entbehrungen jeglicher Art können Wendepunkte in unserem Leben darstellen, die wir als Wegweiser begrüßen anstatt als Übel bekämpfen sollten. In China z. B. steht dasselbe Schriftzeichen für die beiden deutschen Wörter »Gefahr« und »Chance«. Krise meint hier also beides: die Möglichkeit einer Gefahr, aber auch die Chance einer positiven Wendung.
Krisen lassen uns wachsen oder machen uns zu schaffen. Sie können gelingen oder misslingen, aber auf jeden Fall kündigen sie oft eine wesentliche Veränderung im Leben an. Krisen können einen inneren Konflikt entlarven. Sie kennzeichnen einen Widerstreit von Interessen, die nun ans Licht kommen. In meinem Wörterbuch zum Neuen Testament lese ich nach, dass das Wort »krises« in den Bereich der Gerichtsbarkeit fällt. Innerhalb einer Gerichtsverhandlung wird jemandem das Richteramt übertragen. Die katholische Theologie hat immer schon das so genannte Fegefeuer betont. Ich kann mir einen bildhaften Ort dafür nicht vorstellen, aber ich kenne das Gefühl der eigenen »Höllenqual«, indem ich merke, was ich hatte tun sollen, aber nicht habe tun können. Es ist wichtig zu erkennen, dass wir nicht jeder Krise hilflos ausgeliefert sind, sondern wir können auf erprobte Bewältigungsstrategien zurückgreifen. Dennoch ist jede Krise eine persönliche Angelegenheit, die deshalb auch nur ganz persönlich erlebt und durchlebt werden kann. Wir können auch kein Raster anfertigen, nach dem wir objektiv beurteilen, was eine Krise ist und was nicht. Jeder Mensch geht unterschiedlich mit Problemen und Schwierigkeiten um, jeder empfindet sie anders intensiv, d. h. die Krise des einen muss für den anderen noch längst keine »richtige« Krise sein; dies wird u. a. auch bei den von mir ausgewählten Personen deutlich.
Eines ist aber allen gemein: In der Regel sind es genau diese Tiefpunkte unseres Lebens, die uns helfen, in unserer Persönlichkeit zu reifen. Sie sind Teil unseres Daseins. Sie sind Einschnitte, Unterbrechungen im Leben, die mir die Möglichkeit schenken, mein Leben reflexiv zu betrachten, um so in neuer Weise und eigener Selbstbestimmung meine Lebensreise fortzusetzen.
Ich glaube nicht, daß Gott uns aktiv in Krisen schickt, damit wir wachsen, sondern wir wachsen, indem wir auch in Krisen an der Überzeugung festhalten, daß Gott gütig und gut ist. Das lese ich aus den alten Geschichten der Bibel heraus. Dennoch will ich keine Ratschläge geben und mit einem vorgefertigten Gotteskonzeot ans Werk gehen, sondern meine eigenen Fragen an Gott und meine Bedürfnisse, wie sie sich mir selbst in Kriesen eröffneten, erst nehmen. …
Auf der persönlichen Ebene kann uns die Geschichte Elias aufzeigen, daß Gott uns Menschen auch in der Krise der absoluten Ausweglosigkeit nicht alleine läßt, sondern wir darauf vertrauen dürfen, daß sich neue Wege eröffnen, wenn wir es wagen, den Blick nicht auf ein fernes Ziel zu richten, sondern den Engel neben uns erkennen, der uns stärkt und aufrichtet. …
Die Geschichte von der Heilung der Tochter des Jairus zeigt, daß auch wir uns in der Krise darauf verlassen können, daß wir, wenn wir auf Gott vertrauen, wie durch eine unsichtbare Hand geführt werden. Er kann uns die Zuversicht un Hoffnung für unser Leben schenken, die wir alleine oder mit Hilfe anderer nicht finden können. …
Viele Menschen glauben, daß Gott selbst ihnen die Arbeit abnehmen würde, und so beten sie, daß Gott doch in ihr Leben eingreifen möge. Ich habe für mein Leben längst begriffen, daß Gebete Gott nicht in der Weise beeinflussen können, daß er die Welt verändert, daß sich unser persönliches Glücksgefühl und unsere Zufriedenheit mit uns selbst und unserem Leben nicht durch Gottes Eingreifen unmittelbar steigern lassen. Gebete haben keine magische Funktion, sie lassen keine Wunder geschehen und ich verfüge nicht über die Nacht über Eigenschaften, Fähigkeiten oder Dinge, die ich mir im Gebet gewünscht habe, sondern sie helfen, daß ich mich selbst verändern und mich mit mir selbst einverstanden fühlen kann. Die tiefste Form des Gebets finden wir in den Jesusgebet „Dein Wille geschehe“. Es geht Jesus darum, daß Gott der Gott im Leben und in der Seele der Menschen wird, der er ist. Ein Schöpfungsgott, der uns in das Universum der Ewigkeit entlassen hat, damit wir zu ihm zurückkehren. Viele unser kindlich religiösen Fragen können Gott nicht erklären, sondern sie dienen dazu, daß wir einen Sinn im Leben finden, der mit Selbstvertrauen und Selbstfindung in Einklang steht. Diese Fragen mutet Gott uns zu, damit wir Herz, Hand und Verstand unser Leben mit Vertrauen und Dankbarketi leben. …
Wer Krisen einzig und allein als Gefahr, als persönliches Tief erlebt und im Mitleid badet, darf die Krise brav durchleiden! Er wird zu Pillen, Therapien und Büchern greifen. Spannungen, Enttäuschungen, Ablehnung und Hass, die durch jede Krise hervorgerufen werden, werden dann besonders intensiv erfahren. Wer Krisen aber als Chance, Herausforderung und Entscheidungeshilfe verstehen kann, der steht einer Veränderung positiv gegenüber. Er wird schmerzlich aber doch das Alte loslassen können, seine persönlich Einstellung verändern und sich dem Neuen öffnen.