Das Tränenkrüglein
In alter Zeit, lange, bevor es dich und mich gab, da lebte einmal eine Witwe, der ward ihr einziges Kind vom Tod geholt. Die vermochte sich vor Herzeleid nicht zu fassen und weinte sich am Tag und in der Nacht die Augen aus.
Es ergab sich aber, dass sie einmal des Nachts einen Botengang machen musste von einem Dorf zum nächsten. Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, denn ihre Augen waren getrübt von all den vielen Tränen um ihr Kind. Doch auf einmal tauchte eine seltsame Geisterschar vor ihr auf, das war die Frau Berchta mit ihren Heimchen. Die zogen auf dem verschneiten Feld mit leisem Singsang an ihr vorüber, dann über den Heckenzaun und strebten nun dem Walde zu. Schon war der Zug bei den ersten Tannen angekommen, da trippelte ängstlich ein Kind mit nackten Füßchen im kalten Schnee der Schar hinterher und schleppte an einem schweren Krug. Als es nun auch an besagten Heckenzaun kam, waren die anderen schon alle hinüber. So lief es denn ängstlich hin und her und suchte nach einem Durchschlupf im Flechtwerk, denn der Steinkrug war viel zu schwer für das zarte Kindchen, und es konnte ihn nicht drüber heben. Da endlich erkannte die Frau, dass es ihr eigenes Kind war, und es drückte ihr beinahe das Herz ab. Sie rief es bei seinem Namen, aber das Heimchen hörte nicht hin.
Da fasste es die Mutter bei der Hand, doch das Kind erkannte sie nicht. Der Mutter blutete das Herz bei alle dem, und sie weinte und presste das Kleine an ihre Brust. Ais aber die salzigen Tränen des Kindes Äuglein netzten, da erkannte es die Mutter und sagte wie im Traum: »O wie warm ist Mutterarm!« »Ach Kind, willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben?« fragte traurig die Frau. Sprach das Kind: »Lieb Mutter mein, leg ab die Trauer und lass das Weinen. Denn alle Tränen, die du vergießt, die fließen über mein Grab in diesen Krug. Den muss ich nun nachschleppen, und er wird immer noch voller. Da schau nur, mein Hemdchen ist schon ganz nass, und die Kinder laufen mir alle davon. So gib mich doch endlich frei und lass mich los.« Da weinte sich die Mutter einmal noch von Herzen aus, küsste den blassen Kindermund, hob ihr Liebstes über den Zaun und sah mit sehnendem Blick dem weißen Hemdchen nach, bis es fern in der hellen Schar untergetaucht war. Wollte sie dann wieder einmal der Gram übermannen und wollten ihre Augen überfließen vor Kummer, so hat sie schnell an das Krüglein gedacht und an den Zaun, schluckte tapfer die Tränen herunter und trug nun ihr Weh ohne Frage und Klage.
Deutsches Volksmärchen
Das Tränenkrüglein
Von Trennung, Tod und Trauer, Märchen zum Gelingen des Lebens,
Angeline Bauer S. 55/64
Damit wir uns dem Märchen annähern und tiefer in die Bilder hineinsehen können, möchte ich es zuallererst Schritt für Schritt erläutern.
Schon im ersten Satz erfahren wir, wie unermesslich groß das Leid und Unglück ist, denn der Mutter wurde nicht nur ihr einziges Kind vom Tod geholt, sie ist auch noch Witwe. Sie hat also vorher bereits ihren Mann verloren und muss ihr Los nun ganz alleine tragen.
Die Augen der Mutter sind getrübt van all den vielen Tränen, die sie weint, und: Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, erfahren wir weiter. Die Mutter hat also die Verbindung zum Leben verloren und nimmt nichts mehr wahr von dem, was um sie herum vorgeht. Sie hat sich ganz zurückgezogen in ihre Trauer und lässt nichts und niemanden mehr an sich heran. Ihre Welt ist einsam, verschneit und selbst der Vollmond schafft es nicht, Licht in die dunkle Nacht zu bringen, die sie umgibt.
Im nächsten Bild sehen wir eine seltsame Geisterschar. Von Frau Berchta ist da die Rede, die mit ihren Heimchen über das verschneite Feld zieht. Frau Berchta, das ist ein anderer Name für Perch, Molle oder Hei, eine Unterweltsgöttin aus der Sagenwelt, zu der die Toten gehen. Diese Unterwelt hat aber nichts mit unserer Vorstellung von Hölle zu tun, sondern ist einfach nur als »Welt der Toten« zu begreifen. Heimchen sind Insekten aus der Familie der Geradflügler, zu denen z. B. auch die Grillen gehören. In der Mythologie werden »geflügelte« Tiere als Seelenträger gesehen, denn weil sie fliegen können, glaubte man, dass sie die Seelen der Verstorbenen in den Himmel tragen. Im Märchen werden Heimchen dann zu Zwergen und Elfen mit durchsichtigen Flügeln. In vielen deutschen Sagen finden wir diese Verbindung zwischen Heimchen und der Frau Berchta oder Percht, die mit ihnen durch eine Art Zwischenwelt zieht oder sie in das Reich der Toten geleitet. Normalerweise hat kein Sterblicher Einblick in diese »Zwischenwelt«, aber unsere trauernde Mutter, wohl selbst vor Kummer schon mehr tot als lebendig, kann die seltsame Geisterschar sehen.
Sie kann beobachten, wie sie singend wie die Zirpen durch die verschneite Nacht zieht, wie die Heimchen schließlich über einen Heckenzaun klettern und dann dem Wald entgegenstreben. Dieses über den Heckenzaun klettern, steht symbolisch für das Überwechseln in die andere Welt, denn der Zaun markiert hier die Grenze zwischen Leben und Tod.
Als Nächstes erzählt das Märchen von einem kleinen, zarten, ängstlichen Kindchen, das sich mit einem viel zu großen und viel zu schweren Krug voller Tränen abmühen muss, und das verzweifelt versucht, den Anschluss an eine Gruppe »Gleichgesinnter« zu finden, die ihm in der Welf der Toten, wo es ja jetzt nun einmal sein muss, so etwas wie Schutz und Geborgenheit bieten könnte. Das Kind, das wird in diesem Bild am Zaun sehr deutlich, gehört nicht mehr in die Welt der Mutter, aber weil die Mutter es nicht loslässt, findet es auch seinen Weg in die Welt der Toten nicht, wo die kleine Seele endlich zur Ruhe kommen könnte.
Die Tränen der Mutter, die direkt auf die Augen des Kindes fallen, öffnen ihm dann aber noch einmal den Blick für das Diesseits, und es erkennt die Mutter und fühlt ihren Schmerz. Und sofort versucht die Verzweifelte auch wieder, ihr Liebstes in ihrer Welt festzuhalten. Ach Kind, fleht sie willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben? Nur wenn die Mutter das Kind gehen lässt können beide ihren Frieden finden.
Aber das Heimchen weiß, es gibt kein Entrinnen, und der einzige Weg den Frieden zu finden, ist für sie beide, dass die Mutter es gehen l lässt. Darum bittet es dann auch inständig, und es zeigt der ; Mutter den viel zu schweren Krug, i n dem es die Tränen auf[ fangen muss und zeigt auch das nässe Hemdchen, das es trägt.
Unser Wort »Hemd« wird vom Wort ham bzw. dem althochdeutschen Wort hamo abgeleitet, was so viel bedeutet wie ; Hulle, Haut, Kleidung, aber auch Gestalt, Seele, oder Schutzgeist. Das Hemd ist das erste Kleidungsstück, das wir angezogen , bekommen und das letzte, wenn wir ins Grab gelegt wer| den. Es ist das Kleidungsstück, das direkt auf der Haut getragen wird, und deshalb ist es symbolisch mit dem Wesen eines Menschen verbunden. Der Volksmund sagt: Wer sein letztes Hemd gibt, gibt olles was er hot und noch ein bisschen mehr – denn ohne Hemd dazustehen bedeutet, keinen Schutz mehr zu haben und den Blick freizugeben auf sein Intimstes und damit auf seine Seele. In einigen Regionen Deutschlands bekamen Konfirmandinnen und Konfirmanden noch im letzten Jahrhundert ein Totenhemd zur Konfirmation geschenkt, und Mädchen nähten Totenhemden für ihre Aussteuer. Solche Bräuche versinnbildlichen, dass der Tod zum Erwachsensein gehört und dass das Leben vergänglich ist.
In dem tränennassen Hemdchen des Kindes sehen wir also die von der Trauer der Mutter beschwerte Seele. Und als die Mutter dies wahrnimmt und das Flehen und Bitten ihres Kindes hört, versteht sie endlich. Da weint sie sich einmal noch von Herzen aus, dann hebt sie es über den Zaun und lässt es endlich gehen, hebt es. Das Über-den-Zaun-heben, ist ein Bild des bewussten Loslassens, denn der Zaun symbolisiert in diesem Märchen die Grenze zwischen unserer Welt und dem Reich der Toten.
Nicht dass die Mutter nun nicht mehr traurig wäre und das verlorene Kind vergessen würde. Aber erst durch das bewusste Loslassen kann sie sich den Tod des Kindes als unabdingbare Tatsache eingestehen, was Voraussetzung dafür ist, in die nächste Phase der Trauer eintreten und dem Kind einen neuen, der Situation angemessenen Platz in ihrem Leben einräumen zu können – den Platz eines »inneren Begleiters«. Die Beziehung zu ihrem Kind bleibt zwar weiter bestehen, aber sie hat eine andere Qualität erhalten. Und damit kann die Frau sich wieder dem Leben zuwenden, könnte Neues und Schönes in sich entstehen lassen und wieder in Beziehung zu ihren Mitmenschen treten.
Versuchen wir einmal, das Märchen auf eine reelle Lebenssituation zu übertragen. Da ist eine Mutter mit einem Kind, das sterben wird. Man hat es ihr gesagt, ihr Herz spurt es auch, aber sie will es nicht akzeptieren. Alles in ihr sträubt sich dagegen. Vielleicht saß sie schon Wochen, Monate oder gar Jahre am Bett des kranken Kindes. Der Vater hat längst aufgegeben. Er ist der Trauer überdrüssig, hat Mutter und Kind verlassen und sich wieder dem Leben zugewandt. Das kann ein »inneres Verlassen« sein – vielleicht ist er ja physisch noch da, aber auf der psychischen Ebene ist er längst weggegangen.
So ringt nun die Mutter alleine um das Leben des Kindes. Hier ist sie, dort der Tod, und die Seele des Kindes ist hin- und hergerissen zwischen beiden Welten. Das Kind weiß, es
muss gehen, es gibt kein Zurück ins Leben, aber die Mutter hält es mit all der Macht ihrer Tränen fest. Sie denkt, wenn sie nur genug dran glaubt und nicht aufhört zu kämpfen, dann kann sie für ihr Kind den Tod überwinden.
Selbstverständlich können wir die Figuren des Märchens beliebig austauschen. Der Vater kann den Platz der Mutter einnehmen. Er bleibt bei dem Kind, die Mutter ist längst gegangen oder es stirbt die Mutter, und die Tochter/der Sohn kann nicht loslassen. Was aber immer bleibt, ist der schreckliche Schmerz des Abschiednehmens. Und gerade hier hat das Märchen sehr tröstende Bilder für uns und zeigt uns, was das Trauern vollbringen kann. Zunächst einmal geht es um die Fähigkeit, Gefühle gleich welcher Art zu erleben, sie auszudrücken und auszuhalten. Man ist traurig und weint. Wut will vielleicht herausgeschrien oder abgearbeitet werden. Das Gefühl der Leere wird möglicherweise durch Schweigen ausgedrückt und so fort. Erst das Ausleben all dieser Gefühle ermöglicht das Abschiednehmen.
Schließlich hebt die Mutter das Kind über den Zaun und lässt es fortgehen. Damit vollzieht sie aktiv den Akt der Trennung, was auch beinhaltet, dass sie alle eigenen Anteile zurückholt und die des anderen an ihn zurückgibt. Dies gelingt der Mutter, ohne dass es sie zerstört, und so kann sie als eigenständige Persönlichkeit in die reale Welt zurückkehren und auch dem Kind seinen Weg in die Welt der Toten freigeben. Wenn man
so will, leistet sie eine Art psychischer Sterbehilfe, denn auch das Fortgehen ist ja nicht einfach, aber sicher fällt es dem Sterbenden leichter, wenn er weiß, dass er von dem Zurückbleibenden nichts mitnehmen muss und dessen Segen hat. Viele Menschen, die einen Anderen durch eine lange Krankheit bis hin zum Tod begleitet haben, berichten davon, dass der Kranke etwa zwei bis drei Tage vor um seinem Tod nicht mehr wirklich ansprechbar war. Der Sterbende braucht Zeit,sich ganz aus seinem Leben loslösen zu können.
Er hatte einen nach innen gekehrten Blick, wirkte völlig abwesend oder »wie in einer anderen Welt« und hat seine Angehörigen vielleicht nicht einmal mehr erkannt. Für den Sterbenden ist dies die Phase des Loslassens. Er geht in eine Art Niemandsland, ist nicht mehr hier und noch nicht dort. Er braucht diese Zeit »zwischen den Welten«, um sich ganz aus seinem Leben lösen zu können. Das Schlimmste, was man ihm antun könnte, wäre, ihn immer wieder anzuflehen: »Bleib doch hier, ich brauche dich, du darfst mich nicht verlassen!«
Wenn wir den Sterbenden lieben, müssen wir tun, was die Mutter in unserem Märchen tat – ihn freigeben und „über den Zaun heben“, so schwer uns das auch fällt In Gesprächen mit Menschen, die auch Jahre nach dem Tod eines Partners oder Kindes nicht damit fertig wurden, habe ich festgestellt, dass einige von ihnen – bewusst oder unbewusst- »je länger traurig sein« mit »desto mehr lieben« gleichsetzen. Viele glaubten, durch dieses »desto mehr lieben«, ihren Unmut darüber entlasten zu können, selbst noch am Leben zu sein, während der geliebte Mensch sterben musste.
Diese Menschen sprachen von »unüberwundener Trauer«, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht wirklich getrauert, sondern im Gegenteil, intensive Trauerarbeit sogar vermieden haben. Sie haben sich vielleicht aus dem Leben zurückgezogen, waren depressiv, haben sich selbst verloren – aber sie haben nicht wirklich getrauert. Mit Trauern ist nicht nur gemeint, traurig zu sein und einen Verlust zu beklagen – Trauern ist ein intensiver und oft sehr schmerzhafter Prozess, mit dem letztendlichen Ziel, den Verlust des Verstorbenen zu überwinden, sich von ihm zu lösen (was keinesfalls gleichbedeutend ist mit »ihn vergessen«) und als Mensch mit neuen Zielen und Visionen weiterzuleben.
Zur Trauer gehört die Auseinandersetzung mit dem Toten, mit dem was er einem bedeutet hat, im positiven wie im negativen Sinne, und zur Trauer gehört auch das Zulassen so ambivalenter Gefühle wie Liebe und Hass.
Doch so notwendig derartige Gefühlsirritationen sind, so gefürchtet sind sie auch, und zwar von den Betroffenen selbst genauso, wie von den Menschen, die mit den Trauernden zu tun haben. Dann hört man Forderungen wie: »Du musst tapfer sein!« Und: »Lass dich nicht so gehen, das Leben geht schließlich weiter!« Oder der Hinterbliebene setzt sich selbst unter Druck, in dem er sich glauben macht, er könnte den Verlust schnellstmöglich verarbeiten und zu zügig zu seinem gewohnten Alltag zurückkehren.
Häufig steckt dahinter aber eine unbändige Angst vor den gewaltigen Gefühlsstürmen, die losbrechen könnten, wenn wir uns der Trauer wirklich öffnen. Angst, den Schmerz nicht aushalten zu können, Angst vor der Endgültigkeit des Abschieds. Dann lieber gar nicht fühlen, den Schmerz verdrängen, sich in die Arbeit stürzen, sich betäuben und ablenken um jeden Preis Hinzu kommt, dass ambivalente Tragegefühle in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Wer weint und schreit, den Verstorbenen vielleicht klarer liebt als je zuvor, andererseits aber auch seiner Wut über ihn, dass er einen verlassen hat, Ausdruck verleiht, das Gute wie das Schlechte an ihm beschreibt und sich dann wieder mit Schuldgefühlen herumplagt und sich anklagt, der erntet im Allgemeinen wenig Verständnis bei seinen Mitmenschen.
Gefühle und Erinnerungen, die peinlich oder beängstigend sind, werden darum oft verdrängt, verleugnet und beschwichtigt. Dadurch wird der Verstorbene oftmals verherrlicht und auf ein Podest gestellt, und die seelische Konfrontation mit uns selbst, unseren Erinnerungen und unserem Verlust werden unmöglich gemacht.
Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. DOS Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an ihn, in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbst- bestimmtes, neues Leben führen kann.
Die Trennung wird nicht einfacher zu erfragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.
Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. Das Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an ihn, so in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbstbestimmtes, neues Leben führen kann. Die Trennung wird nicht einfacher zu ertragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.
Trauerkrankheit
Sie erinnern sich, was ich zuvor über die Trauerphasen geschrieben habe: Zur dritten Trauerphase gehört das Loslassen und Sich-Trennen. Der Verstorbene nimmt einen neuen Platz im Leben des Hinterbliebenen ein, wird zu einer Art innerem Begleiter oder Schutzengel für ihn. Damit das so positiv verlaufen kann, muss vorausgegangen sein, dass der im Leben Gebliebene auch die negativen Gefühle für den Verstorbenen wahrnehmen, äußern und somit in seine Trauer einbeziehen könnte. Denn wird der Verstorbene nur positiv gesehen und ein glorifiziertes Bild von ihm aufgebaut, führt die Identifikation mit ihm oft zu der Problematik, dass wertvolle Anteile des eigenen Ichs nicht mehr gesehen und anerkannt werden. Dafür richten sich Anklagen, die von sich dem Verstorbenen gelten, mit dem glorifizieren Bild aber nicht mehr zu vereinbaren sind, gegen das eigene Ich. Natürlich gehören Selbstanklagen mit zum Wechselbad der Gefühle eines Trauerprozesses. Verlieren wir uns aber in ihnen und hören sie auch nach Verlauf von Jahren nicht auf, kann das Ausdruck einer narzisstischen Neurose sein. Sigmund Freud betont in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie. Wird der Zorn auf den so sehr geliebten, verstorbenen Menschen unterdrückt, dann verinnerlicht und gegen das eigene Ich gewendet, findet eine negative Fixierung an das »verlorene Objekt« statt. Die Folge ist, dass der Trauernde zum Melancholiker wird, für den es nur noch sein Leid gibt, der nichts Neues mehr leben kann und für andere Menschen unerreichbar bleibt. In solchen Fällen sprechen Psychologen von Trauerkrankheit.