Gleich nachdem ich aus dem Krankenhaus kam, bin ich in mein Zimmer gegangen, habe mir das Vornamensbuch genommen und erst einmal nachgeguckt, was der Name Tobias bedeutet. Kai hatte den Namen Tobias ausgesucht und einfach beschlossen, dass unser Baby ein Junge wird und Tobias heißt. Ich merkte sehr schnell, dass ich mit ein wenig Glück noch einen zweiten Namen aussuchen dürfte, aber gegen Tobias nichts hätte machen können. Als ich dann im Vornamensbuch las: Tobias, hebr. von tobijahu = gut (ist) Jahwe (Gott), hat mich das beeindruckt und ich war froh, dass wir uns auf Tobias geeinigt hatten. Ich wusste zwar, dass Tobias eine Figur aus der Bibel war, doch ich hatte nie weiter darüber nachgedacht.
Keiner fragte nach der Geburt nach dem Namen unseres Sohnes
Weder die Hebamme und schon gar nicht der Arzt fragten im Kreißsaal nach dem Namen unseres Kindes. (Mehr hier: Geschichte) Warum eigentlich nicht? Ja, Tobias ist bei der Geburt gestorben und doch auch Tote haben doch einen Namen. Ist es allein damit zu erklären, dass sie dachten, sie täten uns weh mit dieser Frage? Vielleicht, und doch hatte ich irgendwie darauf gewartet oder es sogar gewünscht, wenigstens damit die Papiere stimmen. Später als ich den Auszug aus dem Sterbebuch sah, wusste ich warum dies nicht nötig war, denn dort stand lediglich „Ein Knabe Lehmitz ist am 22.08.1997 in der Geburt gestorben“. Mehr war nicht erforderlich und auch nicht erlaubt. (Vgl. Namensrecht)
Aber warum hätte ich es mir erwünscht? Warum ist der Name auch heute noch so wichtig für mich? Ich wollte einfach, dass mein Kind auch als solches anerkannt wird. Für mich war und ist es auch heute noch so, dass keine Schwangerschaft gescheitert war, sondern ich ein Kind geboren habe. Ein Individuum, eine Persönlichkeit, auch wenn sie nie die Chance hatte, diese Persönlichkeit zu zeigen. So schreibet es auch Michaela Nijs in ihrem Buch „Trauern hat seine Zeit“ (S. 48-51) Michaela Nijs, wo sie erklärt, dass der Namen eines Menschen in engem Zusammenhang mit der Anerkennung seiner Individualität, seiner Persönlichkeit stehe. So könne der Name als eine Voraussetzung für Begegnung gesehen werden. Auch sie weißt in ihrem Buch darauf hin, dass es zwar selbstverständlich sei, einem lebend geborenen Kind einen Namen zu geben und dies auch einer der ersten Fragen sei, die Eltern kurz nach der Geburt von Freunden oder Verwandten gestellt werden, dieser selbstverständliche Umgang mit dem Namen aber verloren gehe, wenn das Kind tot geboren werde. Auch sie ist der Meinung, dass gerade die Namensgebung beim frühen Tod eines Kindes für die Eltern und für alle anderen Beteiligten wichtige Signale setze, da die Eltern mit der Namensgebung eines totgeborenen oder perinatal gestorbenen Kindes deutlich machen, dass ein Mensch gestorbenen sei und es nicht um den Verlust eines Schwangerschaftsproduktes gehe. Diese Anerkennung der Individualität des Kindes gehöre nach Auffassung von Nijs wesentlich zu einem würdevollen Umgang mit früh gestorbenen Kindern. Fast alle Mütter, die in einer Untersuchung befragt worden seien, hätten ihren verstorbenen Kindern einen Namen gegeben. Viele hätten jedoch diesen Namen noch nie einem anderen Menschen gegenüber ausgesprochen. Die selbstverständlich Frage nach dem Namen könne den Eltern helfen, die Schwelle zu überwinden, zum ersten Mal den Namen ihres Kindes andren mitzuteilen. Da die Eltern so wenige konkrete Erinnerungen an ihr Kind habe, könne die Namensgebung ihnen oft helfen, anzuerkennen, dass sie um einen konkreten Menschen trauerten. Der Name könne auch zu einem Symbol für die Existenz des Kindes werden.
Bei dem Stichwort Symbol fällt mir ein, dass mir vor ein paar Wochen aufgefallen war, als ich so bei uns durchs Haus ging, dass wir fast in jedem Zimmer bis auf Badezimmer und Küche etwas haben, was uns an Tobias erinnert. „Richtige“ Erinnerungsstück haben wir ja leider nicht, da ich Tobias still geboren habe und nichts vorher kaufen wollte. Aber ich habe alles gesammelt, was mich so in den letzten 5 Jahren auf meinen Weg durch die Trauer begleitet hat und mich an Tobias erinnert. Alle diese „Erinnerungsstücke“ sind mit seinem Namen versehen. Sicher ist dies kein Zufall. (Mehr hier: Mementos)
Aber nicht nur im Krankenhaus fragte keiner nach Tobias Namen, auch keiner unserer Verwandten oder Freunde fragten nach seinem Namen. Inzwischen dürften alle wissen, dass unser erster Sohn Tobias heißt, aber sein Namen wird nie genannt. Noch nicht einmal am Tag der Beerdigung von Tobias hat irgendjemand seinen Namen genannt.
Für andere warst Du niemals wirklich da
sie kennen Dich nicht
sie vermissen Dich nicht
keiner spricht von Dir
niemand wagt Deinen Namen zu sagen
sie werden es niemals verstehen
damit lassen sie Dich
ein zweites Mal sterben
07.03.1998
Besonderes deutlich, dass Tobias für andere nicht existiert, wurde mir, als mir letztes Jahr meine Schwägerin ganz Stolz einen Stammbaum unserer Familie überreichte. Dort hatte sie ganz akribisch unsere und ihre Eltern, die Familie meines Bruders mit allen Kindern, sowie die Familien ihrer Geschwister mit deren Kindern und auch unsere Familie mit unserem zweiten Sohn, Pascal, aufgeführt. Tobias war dort natürlich nicht zu finden. Dafür aber mindestens ein Dutzend unserer Vorfahren, die nicht nur inzwischen ebenfalls tot waren, sondern die auch keiner von uns kannte. Sie fand es also wichtig, eine Menge Toter ganz genau mit Namen, Vornamen und Beruf aufzuführen, die keiner von uns kannte, nicht mal aus Erzählungen, aber den Neffen ihres Mannes nicht, nur weil er tot geboren wurde.
Als endlich der Namen Tobias auf dem Grabstein stand, war ich irgendwie richtig froh
Nachdem Tobias in meiner nächsten Umgebung totgeschwiegen wurde, auch die Behörden ihn durch die Nichteintragung des Vornamens nicht als vollwertig akzeptierten, war es mir ganz wichtig, dass Tobias zumindest auf dem Grabstein steht. Wir hatten ihn bei meinem Vater im Familiengrab beigesetzt. Ich beauftragte also einen Steinmetz den Namen Tobias und das Datum 22.08.1997 auf den Stein zu setzen. Doch es dauerte Monate bis der Steinmetz dies machte. Jedes Mal wenn ich zum Friedhof kam und sooft war das nicht, weil Tobias ca. 60 km entfernt beerdigt wurde, war ich sehr traurig als ich sah, der Name steht immer noch nicht darauf. Kai hat dann irgendwann beim Steinmetz angerufen und Druck gemacht. Als ich dann endlich den Namen lesen konnte, war ich irgendwie richtig froh darüber. Endlich gab es etwas ganz offizielles mit seinem Vornamen.
Änderung des Personenstandsgesetztes schaffte endlich die Möglichkeit, den Vornamen eintragen zu lassen und damit auch eine offizielle Anerkennung durch die Behörden zu erwirken
Eheschließungsrechtsgesetz Artikel 17
§1 Für ein vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in das Sterbebuch eingetragenes totgeborenes oder in der Geburt verstorbenes Kind sind auf Antrag einer Person, der bei der Lebendgeburt des Kindes die Personensorge zugestanden hätte, durch Randvermerk Vor- und Familienname einzutragen: § 15 Abs. 1 und § 21 Abs. 2 PStG gelten entsprechend. Der Antrag ist binnen fünf Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes bei dem Standesbeamten zu stellen, der das Sterbebuch führt.
Als dann am 30.06.1998 das neue Personenstandsgesetz in Kraft trat, nach dem auch der Vorname derjenigen Kinder, die vor dem 01.07.1998 totgeborenen wurden, auf Antrag nachtragen werden können, habe ich mir sofort die gesetzlichen Grundlagen herausgesucht und bin damit zum Standesamt nach Hamburg-Altona gegangen, um auch Tobias Vornamen eintragen zu lassen (Vgl. Namensrecht)
Inzwischen habe ich festgestellt, dass nicht nur mir jede Möglichkeit wichtig war, Tobias offiziell anerkennen zu lassen, sondern, dass andere Mütter von totgeborenen Kindern ähnliches in Bewegung gesetzt haben.
Wie zum Beispiel Uschi, die Mutter von Paul, sich gefreut hatte, dass ihr Paul im Gemeindebrief unter der Rubrik Beerdigungen aufgeführt wurde. (Mehr zu ihrer und Pauls Geschichte).
Beerdigungen
Kirchlich bestattet wurden in Rengershausen:
Am 09.05.03: Paul Balz (gestorben, ehe er geboren wurde)
Sie selbst hatten auch eine Anzeige in der Zeitung für Paul setzen lassen.
Richtig kämpfen musste Claudia, damit ihr Moritz wie alle anderen Geburten und Sterbefälle auch im Dorfblatt genannt wurde. (Mehr hier)
Auch beim Trauerseminar in Bad Segeberg und unserer Frühtodselbsthilfegruppe spielte der Name immer eine zentrale Rolle
Auch beim Trauerseminar in Bad Segeberg und unserer Frühtodselbsthilfegruppe spielte der Name immer eine zentrale Rolle. Gleich zu Beginn des Trauerseminars haben die Eltern bzw. Geschwister einen Stern aus Papier geschnitten und den Namen des Kindes darauf geschrieben. Diese Sterne wurden an ein blaues Samttuch geheftet und über einen großen Tisch im zentralen Raum gelegt, wo sie von allen bewundert werden konnten. Aber auch in den kleinen Gruppen war der Name des Kindes immer präsent. So wurde von jedem Elternpaar ein kleiner gelber Stern mit dem Namen beschriftet, der dann in einen Kranz gesteckt wurde. Beim Abschlussgottesdienst standen zum einen auf dem Altar die von den Eltern selbst verzierten Kerzen, alle mit dem Namen des Kindes, und zum anderen wurde jedes Kind mit vollem Namen vorgelesen. Gerade das Vorlesen des Namens ist in fast allen Gedenkgottesdiensten (Hinweis auf Gedenkgottesdienste) ein zentrales Ritual. Ich beschrieb dies in meinem Bericht, den ich unmittelbar nach dem Seminar verfasste (hier mein Seminarbericht) so:
„Besonders schön, insbesondere für unsere Gruppe, die alle ein Kind in der Schwangerschaft oder kurz danach verloren hatten, war, dass an jedes Kind mit seinem vollständigen Namen gedacht wurde. Ich war schon immer glücklich, wenn jemand unseren Sohn mit seinen Namen Tobias nannte, aber Tobias Lehmitz, das hatte noch niemand gesagt. Jeder von uns in der Gruppe, achtete auf jeden Namen unserer Kinder. “
In unserer Selbsthilfegruppe hatten wir ein ganz besonderes Ritual, nämlich unsere Eisenbahn, die ich anlässlich unseres Abschiedsritual so beschrieb ( hier mein Bericht zu unserem Abschiedsritual) :
„Natürlich stand unsere Eisenbahn mitten auf dem Tisch. Unsere Eisenbahn, die uns von Beginn an durch unsere Gruppenabenden begleitet hat. Sie besteht aus einzelnen Holzgleisen, die man zusammenlegen kann. In die Gleise werden kleine Stifte gesteckt, an denen jeweils ein großes Herz, das mit dem Namen eines Kindes und dessen Geburts- bzw. Todesdatum beschriftet ist, befestigt wird. “
Die meisten Zuschriften auf dieser Seite bekomme ich zur Sternenseite mit den Namensgedichten, inzwischen über 50 Sterne. Viele Eltern haben einfach das Bedürfnis, dass wenigstens hier im Internet es einen Platz gibt, wo ihrem Sternenkind mit Namen gedacht wird.
© Pirko Lehmitz, www.Stillgeboren.de Juni 2003