Am Morgen, des 22.08.1997 wollte Dein Vati eigentlich meine Mutter wieder ins Krankenhaus fahren, aber er brachte mich gleich zu Dr. Reinhold und blieb bei mir. Dort lag ich über eine halbe Stunde am Wehenschreiber. Die ganze Nacht hatte ich bereits Wehen – sie wurden eher schlimmer als besser. Daß dies Wehen waren, dazu brauchte ich keinen Wehenschreiber, denn Wehen kannte ich ja nun. Dr. Reinhold machte noch einen Abstrich und dann eine Ultraschalluntersuchung. Am Gebärmutterausgang hatte sich der „Verschluß“ deutlich verringert – offensichtlich eine Folge des Ausflusses, den ich seit ein paar Tagen und die letzte Nacht sehr stark hatte. Dir ging es zu diesem Zeitpunkt noch gut. Dr. Reinhold erklärte, daß ich sofort ins Krankenhaus sollte. Dort sollte
entschieden werden, ob u.U. der Muttermund zugenäht wird oder der wehenhemmende Tropf erst einmal ausreichen würde.
Wir fuhren dann erst wieder nach Hause, wo ich schnell ein paar Sachen zusammenpackte und mich dann für zwei Wochen bei Joni im Büro abmeldete. Da die Wehen nun in kürzeren Abständen kamen, nahm ich eine Partusisten – langsam bekam ich doch Angst.
Im Mariahilf mußte ich kurz warten – die Nerven Deines Vatis lagen blank und er brachte erst einmal das Auto weg. Dann wurde ich wieder an den Wehenschreiben angeschlossen und konnte dabei Dein aufgeregtes Herz hören. Offenbar hatte sich meine Angst zwischenzeitlich auch auf Dich übertragen. Die Wehen kamen nun fast alle 6 bis 8 Minuten. Für mich dauerte es fast eine Ewigkeit, bis der Chefarzt kam. Er schaute nur auf die Aufzeichnungen, stellte noch ein paar Fragen und erklärte, daß er mich gleich unten in der Ambulanz untersuchen wollen. Dann kam eine der Hebammen zu mir mit einem Neugeborenen auf dem Arm und strahlte mich an. Ich dachte noch, ja, wenn alles überstanden ist und ich Dich im Arm halten könnte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, daß mir dieser Wunsch schneller und vor allen Dingen anders als ich wollte, erfüllt wurde.
Aber auch dann dauerte es noch eine halbe Stunde. Eine Untersuchung war aufgrund der Wehen kaum möglich. Der Muttermund war Gott sei Dank noch geschlossen, aber auf dem Ultraschall sah er dann, daß die Fruchtblase verdächtig weit zum Ausgang neigte. Er erklärte, daß wohl unter diesen Umständen ein Zunähen zu gefährlich sei. Ich müßte erst einmal an einen wehenhemmenden Tropf angeschlossen werden und dann wäre es wohl besser ich käme nach Altona, da für den Fall einer Frühgeburt dort die besser Intensivmedizin wäre. Die 10 Minuten, die es dauerte, bis endlich der Partusitentropf angeschlossen war, waren unendlich. Sofort ging mein Puls auf 180, aber die Wehen ließen fast im gleichen Augenblick nach. Dr. Rückert telefonierte sodann mit Altona.
Dein Vati war in seiner Aufregung ganz süß und fragte immer wieder, wie er nach Altona komme, bis ich begriff, daß er offenbar vorhatte, mich mit dem Auto selber zu bringen und ich ihm ganz ruhig erklärte, daß ich sicherlich mit dem Krankenwagen gefahren werde und er sich keine Sorgen machen müsse.
Wenige Minuten späten kamen dann auch zwei Sanitäter und eine Sanitäterin vom Roten Kreuz. Sie stellten sich ganz lieb vor und verfrachten mich dann auf ihre Trage. Es muß unerträglich heiß gewesen sein – ich empfand es als gerade angenehm. Dann wartete wir noch auf den Arzt, der mitfahren sollte. Es war ein junge netter Arzt der Hamburger Feuerwehr. Er strahlte mich an und erklärte, mein Puls sei umwerfend. Dann ging sie ab die Post. Wir fuhren mit dem Rotekreuzwagen – vor uns der Notarztwagen der Feuerwehr, der den Weg freimachte -, was dem Rotekreuzfahrer sichtlich gefiel. Am Freitagmittag mit 120 Km/h durch den Elbtunnel im Konvoi mit zweimal Blaulicht! So etwas wird einem selten geboten. Dein Vati konnte natürlich wie erwartet nicht mithalten. Mir wurde aber beinahe schlecht.
Im Perinatalen Centrum in Altona kam ich dann sofort in den Kreissaal. Ein Hebamme mit leichten türkischen Akzent kümmerte sich sofort ganz lieb um mich. Ich wurde zunächst einmal umgestöpselt und bekam neben Partusiten nun auch Magnesium und irgend etwas gegen das Herzrasen. Kurz durfte ich noch einmal Deine Herztöne hören – es war das letzte Mal -, dann lag ich wieder am Wehenschreiber und mußte mich erst einmal Übergeben.
Genau in diesem Augenblick kam der Oberarzt, ein älterer Arzt, der ganz betroffen sagte, es gäbe bestimmt schönere Anlässe hier zu sein. Als er mich untersuchte, stellte er fest, daß sich nun auch der Muttermund – wenn auch nur wenig – so doch geöffnet hatte. Er erklärte, daß ein Zunähen des Muttermundes zumindest jetzt nicht mehr in Frage käme, da die Fruchtblase dabei beschädigt werden könnte. Im Hinblick auf Deine Überlebenschance, sofern die Geburt nicht mindestens einige Wochen hinausgezögert werden könnte, machte er mir wenig – um nicht zu sagen gar keine – Hoffnung.
Die Kreissaalärztin nahm nun erstenmal unsere Daten auf – auch die von Deinem Vati, worüber ich mich erst gewundert hatte – doch jetzt weiß ich warum. Das Krankenhaus muß jede Geburt – auch eine Totgeburt – melden.
Alles was wir nun machen konnten, war warten. Die Wehen wurde schwächer und die Abstände größer, aber sie waren immer noch da. Dennoch hatte ich jetzt die Hoffnung, daß doch noch alles gut gehen wird. Zwischen den einzelnen Wehen döste ich. Es war eine irre Hitze im Raum, obwohl Fenster und Tür geöffnet waren. Dein Vati blieb die ganze Zeit tapfer bei mir. Es beruhigte mich sehr, nicht allein zu sein.
Ich weiß nicht mehr wie lange ich so gelegen habe, ich schätze ca. 3 Stunden. Jetzt erschaudere ich bei dem Gedanken, wie ruhig ich war, wie ich alles ertragen habe. Abends – ich glaube so gegen 17 Uhr ist es aber dann doch passiert – die Fruchtblase platzte. Ich schaute nur hoch zu Deinem Vati und sagte ganz ruhig: „Das war es dann wohl – die Fruchtblase ist geplatzt“. Dein Vati sagte der Hebamme Bescheid, die dann zusammen mit dem Kreissaalarzt kam, der offensichtlich zwischenzeitlich gewechselt hatte. Er stellte sich nicht einmal vor und sagte nur kurz und knapp, daß sie jetzt den Tropf abstellen werden und es dann sehr bald zur Geburt kommen werde. Dann verschwand er erst einmal wieder.
Die Hebamme, Frau Selcuk – während der ganzen Zeit hatte ich versucht mir ihren Vornamen einzuprägen, vergeblich, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren – befreite mich vom Wehenschreiber, untersuchte mich und erklärte mir, ich könne mich ruhig noch auf die Seite drehen. Dann verschwand auch sie wieder.
Diese Hilflosigkeit in diesem Augenblick – die Gewißheit gleich meinen Sohn zu gebären, der doch mit größter Wahrscheinlichkeit selbst dann keine Chance haben wird, zu leben, wenn er die Geburt übersteht – war so unerträglich, unerträglich als die Wehen, die jetzt sehr schnell in der Heftigkeit und Intervallen zunahmen.
Ich glaube, es hat dann keine 20 Minuten mehr gedauert, bis Du Dich in Bewegung gesetzt hast. Arzt und Hebamme taten stumm ihre Arbeit. Mit der ersten große Wehen habe ich dann meinen ganzen Frust – der sich die ganze Zeit angestaut hatte – wohl weniger den Schmerz, herausgeschrien. Aber da konnte der Arzt auf einmal doch zu mir sprechen, wenn auch im Kasernenton kurz und prägnant: „Sie würden es sich und uns erleichtern, wenn sie jetzt pressen würden, Mund zu und Kopf nach vorne!“ Ja, tatsächlich mit der nächsten Wehe preßte ich und Dein Köpfchen war draußen, das spürte ich sofort und mit zwei oder drei
weiteren Wehen warst – so glaube ich – Du ganz da, wenn auch nicht mehr am Leben.
Es war um 17.35 Uhr. Sie verschwanden sogleich mit dir in einem Nebenraum, wo ein Kinderarzt auf Dich wartete.
Ich bekam dann eine Spritze zur Beschleunigung der Nachgeburt, die dann auch bald kam. Da ich trotz Deiner kleinen Größe gerissen war, nähte mich der Arzt erst einmal.
Der Kinderarzt kam dann zu mir und sagte mir, daß er leider nichts mehr tun konnte. Er war sehr lieb und erklärte, daß du mit knapp über 500 g eigentlich keine Chance hattest, dies aber auch wenn es sich für mich jetzt schlimm anhöre, aber vermutlich besser sei, als daß sie dich gerade am Leben hätten erhalten können und du dann vielleicht noch zwei Tage oder zwei Wochen gelebt oder schwerst behindert überlebt hättest. Er fragte mich, ob ich Dich denn sehen wolle. Na klar wollte ich das, das war für mich keine Frage. Er sagte, daß er diese Entscheidung sehr gut finde und es mir bestimmt helfen werde.
Der Kreissaalarzt erklärte uns sodann, daß Du etwas über 500 g wiegst und daher nach dem Gesetz als Totgeburt gelten würdest, d.h. er einen Totenschein ausstellen und wir dich auch beerdigen müßten.
Als wir alleine waren, fragte ich deinen Vati, ob es bei Tobias bleiben soll. Schließlich warst Du für uns von Anfang an unser Tobby. Er nickte nur. Erst zu Hause schlug ich in unserem Vornamenbuch nach der Bedeutung des Namens: Tobias kommt aus dem Hebräischen – von tobiijahu = gut (ist) Jahwe (Gott).
Dann mußte ich an Deine Großmutti denken, die sich so auf dich gefreut hatte und selber im Krankenhaus am Chemotropf lag. Ich wollte nicht, daß ihr diese Nachricht am Telefon gesagt wird und da es schon so spät war, bat ich Deinen Vati, mein Brüderchen anzurufen, damit er es ihr gleich morgen Früh persönlich sagt, was Dennis auch tat.
Am Sonnabend erfuhr ich dann allerdings, daß sie den ganzen Tag versucht hatte, herauszufinden, wo ich abgeblieben war und sich die größten Sorgen um mich gemacht hatte. Tante Heike hat dann vom Mariahilf über das UKE und AK Barmbek die Krankenhäuser abgeklappert. Bis Abends um 23 Uhr hat sie gewartet, ob Tante Heike etwas herausbekommt. An die Möglichkeit, daß Tante Heike mit ihr sprechen könnte, hatte ich nicht gedacht und es im nachherein bereut, daß wir sie nicht noch in der Nacht benachrichtigten ließen.
Den Gedanken, daß sie Angst um mich haben könnte, war mir zu keiner Zeit gekommen. Angst, daß mir etwas passieren konnte, – nein, die hatte ich nicht gehabt – Angst, die ich hatte, war, Dich zu verlieren, alles andere war mir völlig egal gewesen.
10, 15 Minuten später brachte der Kinderarzt Dich und fragte ganz behutsam, ob er Dich mir auf die Brust legen dürfe. Dann hatte ich Dich in meinem Arm. Du warst ein niedlicher kleiner Bursche mit schwarzen Haaren – wie dein Vati – und einer Stupsnase. Du sahst so friedlich aus. Auch Dein Vati kam ganz dicht heran. Um nichts in der Welt hätte ich in diesem Augenblick hierauf verzichtet.
© Pirko Lehmitz (1997)