Ansprache zum “Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder” Frankfurter Kirchentag, 15. Juni 2001

von Kristiane Voll

Liebe Mitmenschen! Und ganz besonders: Liebe Mütter, Väter, Geschwister und Familienangehörige, die Sie undKirchentag Ihr um ein verstorbenes Kind in Ihren Familien trauern!

Zu Beginn dieses Gottesdienstes haben wir Klagen gehört. Klagen zu können und zu dürfen ist auf den ganz unterschiedlichen Wegen durch die Trauer lebenswichtig. Denn Klagen gibt dem Schmerz Raum und Ausdruck. Das zu haben, ist all´ zumal für trauernde Eltern, Geschwister und Menschen aus ihrem nächsten Umfeld wichtig, denn für sie ist die Trauer um den Tod eines Kindes eine dunkle und zutiefst schmerzliche Zeit. Das auszuhalten und zu ertragen, erfordert äusserste Kraftanstrengung.

Trauernde, Traurige, Verzweifelte erleben sich oft wie auf Wüstenwegen. Der Verlust – der Tod des vertrauten, geliebten Menschen – der Tod eines Kindes – hat aus einer bewachsenen, blühenden Landschaft eine Wüste werden lassen. Und dort nun – in dieser unbekannten, unwirtlichen Gegend – in der Wüste – müssen sie einen Weg finden.

Durch Wüste zu gehen, macht Angst. So viel Angst, dass man einfach nur fliehen möchte. Und doch tut es not, diesen Weg durch die Wüste zu gehen, weil wir nur so das Gewesene wahrnehmen und neues Leben entdecken können.

Wüstenzeiten sind harte Zeiten. Sie bedeuten ein beständiges Suchen nach der verschütteten, verborgenen Lebensader. Gibt es sie überhaupt noch – diese Lebensader? Die Wüste lässt oft daran zweifeln, weil es kaum Zeichen von Leben gibt und das Vertraute fehlt.

Wie soll ich leben ohne mein Kind? – Ohne meine Schwester? – Ohne meinen Bruder? Was ist das für ein Leben? Wo blühendes, wachsendes Leben war, spüre ich plötzlich Leere. Das Leben wird zur Wüste.

Durch diese Wüste einen Weg zu finden, kostet unendlich viel Kraft. Es ist härteste Arbeit. Es braucht enorme Anstrengungen, gegen Sand und Wind, gegen Durst und Erschöpfung, zu kämpfen und den Weg zur nächsten Zisterne zurückzulegen. Die brütende, lähmende Hitze am Tag, die klirrende Kälte der Nacht, das Gefühl der ohnmächtigen Winzigkeit inmitten einer grenzenlosen Weite kosten Kraft und führen nicht selten an die Grenzen dessen, was möglich ist. Inmitten der Not und der Entsagung werden jeder Tropfen Wasser, jeder kleine Schattenfleck kostbar.

Manche sagen: “Die Wüste lebt.”, aber das dringt kaum in das Bewusstsein derer durch, die am Anfang ihrer Wüste stehen. Es braucht Zeit, dafür ein Gespür und einen Sinn zu bekommen. Es braucht Zeit, um sich in der Wüste zurecht zu finden und sie als einen Ort des Lebens – als einen Ort des verborgenen, unscheinbaren Lebens zu entdecken.

Ich möchte uns dazu eine kleine Geschichte erzählen, die davon auf ihre Weise etwas zum Ausdruck bringt:

Ein Fluss wollte durch die Wüste zum Meer. Aber als er den unermesslichen Sand sah, wurde ihm Angst, und er klagte: “Die Wüste wird mich austrocknen, und der heisse Atem der Sonne wird mich vernichten.” Da hörte er eine Stimme, die sagte: “Vertraue dich der Wüste an.” Aber der Fluss entgegnete: “Bin ich dann noch ich selber? Verliere ich mich nicht?” Die Stimme antwortete: “Nein, du wirst dich nicht verlieren.”
So vertraute sich der Fluss der Wüste an. Wolken sogen ihn auf und trugen ihn über die heissen Sandflächen. Als Regen wurde er am anderen Ende der Wüste wieder abgesetzt. Und aus den Wolken floss ein Fluss – der Fluss, neu und verändert und doch zugleich auch der gleiche.
(nach Gerhard Eberts, gefunden in: Elsbeth Bihler, Symbole des Lebens – Symbole des Glaubens II, Limburg 1998, 16)

Trauer – die Trauer um ein verstorbenes Kind – ist wie der Weg des Flusses durch die Wüste. Der Fluss hat Angst – grosse Angst. Er klagt und zaudert. Die Angst, sich ganz und gar zu verlieren, ist übermächtig.

Der Fluss braucht Zuspruch, um sich auf das Wagnis seines Weges einzulassen. Auf diesem Weg verändert und verwandelt er sich, und doch bleibt er auch er selbst. Eine schwer vorstellbare Erfahrung: wie soll das gehen? Ich glaube, diese Erfahrung erschliesst sich erst im Erleben. Sie ist mit Worten nicht wirklich zu beschreiben und verständlich zu machen. Ein klein wenig vermag vielleicht die Geschichte davon anzudeuten.

So wie der Fluss Zuspruch und Ermutigung braucht, so brauchen gerade auch trauernde Familien Zuspruch und Begleitung. Auf den Wüstenwegen durch die Trauer ist es unendlich wichtig, Momente des Trostes zu erleben: Eine entgegen gestreckte Hand, eine Umarmung, ein freundliches Wort, die Ermutigung, zu erzählen, ein verständnisvoller Blick können solche tröstlichen Momente sein. Sie sind Lebenszeichen in der Wüste und helfen, den schweren Weg zu gehen.

Die Flussgeschichte erzählt, dass der Fluss sich am Ende der Wüste wiederfindet – neu findet und dass er Leben findet.

Leben finden – Hoffnung auf Leben entdecken: Als betroffene Schwester weiss ich, dass das für viele trauernde Mütter und Väter, für trauernde Brüder, Schwestern und Familienangehörige häufig etwas Schweres, etwas Unwirkliches ist. Im Wissen darum möchte ich mit ein paar Sätzen von meiner Hoffnung erzählen.

Ich vertraue darauf, dass es Gott gibt – dass er da ist, wenn ER mir auch oft unendlich fern scheint.
Und ich vertraue darauf, dass Gott stärker ist als der Tod. Ich glaube, dass er Leben schenkt – Leben auch jenseits des Todes. Es gibt Erfahrungen, die mich in diesem Glauben bestärken; und es gibt Worte, die diesem Vertrauen einen Grund geben. Ein biblischer Vers, der mich hier besonders anrührt und stärkt, steht beim Propheten Jesaja: “Wie ich strömenden Regen über verdurstendes Land ausgiesse, so giesse ich meinen Lebensgeist über dich aus.” Amen.