Starksein

E s wird Euch bestimmt auch schon passiert sein: Wenn Ihr erzählt, daß Ihr ein Kind – in der Schwangerschaft, während oder kurz nach der Geburt – verloren habt, plötzlich andere Frauen Tränen in die Augen schießen, sie weinen und sagen, ja ich habe auch ein Kind verloren. Frauen, die es sonst nie sagen würden, die aus einer Generation kommen, wo man niemals darüber spricht. Ich mußte erst meinen Sohn verlieren, um von meiner eigenen Mutter zu erfahren, daß ich noch einen weiteren großen Bruder habe, der irgendwann 1954 gestorben war. Mein Mutter weiß weder genau wann, noch in welcher Woche sie damals schwanger war. Nach ihren Erzählungen schätze ich so zwischen der 16. und 20. SSW. Weder ihre Eltern, noch ihre Geschwister wußten etwas davon. Als sie damals aus dem Krankenhaus kam, hatte sie einfach so getan, als wenn nichts gewesen wäre und genau dies verlangte sie offenbar auch von mir. Sie kam, wie die meisten, überhaupt nicht damit zurecht, daß ich so offen trauerte. Sie erwartete, daß ich mich so verhielt, wie sei es gelernt hatte: Sich zusammenzureißen, und wenn schon weinen, dann zu Hause, ganz allein für sich. Eben in ihren Augen “starksein”.

Zum Thema “starksein” gefällt mir ein Gedicht von Sascha Wagner, einer verwaisten Mutter, besonders.

Über das “Stark-Sein”

Viele Menschen sind überzeugt davon,
das stark und tapfer sein
bedeutet, an “etwas Anderes” zu denken,
nicht über Trauer zu sprechen.

Aber wir wisse – nicht wahr –
Daß ehrlich stark-und-tapfer-sein
Bedeutet,
an das Geschehene zu denken,
über das Geschehene zu sprechen,
bis unsere Trauer beginnt,
erträglich zu werden.

Das ist wirkliche Stärke.
Das ist wirklicher Mut.
Und nur so will
Stark-und-tapfer-sein
Uns zu Heilung tragen.

Natürlich, dieses gewünschte Verhalten ist für alle anderen am bequemsten: Sie werden nicht belästigt, es ist einfach, man schweigt über das Geschehene. Insbesondere läuft man dabei nicht Gefahr gefühlsmäßig mit einbezogen zu werden. Da unsere Gesellschaft ja verlernt hat, mit dem Tod, Sterben und insbesondere mit der eigenen Vergänglichkeit zu leben, haben viele ihre eigenen Trauer um den Verlust eines Menschen – sei es der Vater, Mutter oder Großeltern, einfach irgendwo weggesteckt und durch unsere Trauer könnte dies wieder hochgespült werden. Wir mit unserer offenen Trauer, die bereit sind, den mühsamen, aber lohenden Weg zu gehen, gefährden andere, die ihn nicht gegangen sind.

Mehrfach habe ich es erlebt, daß verwaiste Mütter, deren Kind schon vielen Jahren tot ist und die selbst sagten, sie seien darüber schnell hinweggekommen, plötzlich anfingen zu weinen, was ihnen sehr unangenehm war.

So wie es Sascha Wagner in ihren Gedicht beschreibt, meine auch ich, daß wir, die den Weg der Trauer gehen, und wissen, daß dies ein langer, dunkler und mühsamer Weg ist, mutig sind und Stärke zeigen.

Wer hat sie nicht erlebt, die Ausgrenzung, die Einsamkeit? Plötzlich waren alle weg – wie eine Explosion. Ursula Goldman-Posch schreibt hierzu in ihrem Buch “Wenn Mütter trauern”: “Das Unverständnis von Verwandten und Freunden sowie die mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten mit den behandelnden Ärzten, die sie – wie mehrere Mütter formulierten – nach dem Babytod fast wie Aussätzige mieden, machen diese Trauer zum verschämten Schmerz innerhalb der eignen vier Wände.”

Und wenn man dann tatsächlich noch zeigte, daß man trauerte und sogar versuchte, von seinem Sohn zu erzählen, dann wurde die Einsamkeit noch größer. Es ist schon eigenartig, von meinem Vater, der vor 10 Jahren gestorben ist, darf ich erzählen – es gibt so viele schöne Geschichten von ihm zu erzählen und es ist einfach schön, sie zu erzählen oder zu hören, daß auch mein Bruder die gleichen Geschichten von ihm erzählt – , aber wenn ich anfange von meiner ersten Schwangerschaft zu erzählen, dann wird plötzlich das Thema gewechselt oder ich werde mit entsetzen Augen angesehen. Von Tobias direkt zu erzählen, habe ich bereits in meiner Familie aufgegeben. Für sie existiert er gar nicht. Selbst die wenigen Erinnerungen, die wir haben, dürfen wir mit niemanden teilen.

Wahrscheinlich ist genau dies der Grund, warum wir Eltern, die ihr Baby verloren haben, so viel im Internet vertreten sind, warum gerade für unsere Kinder so viele Seiten gestaltet wurden, gerade wir das Bedürfnis haben, ein Raum für unserer Trauer zu finden und natürlich an dieser Situation etwas ändern wollen.

Dabei hat sich – jedenfalls in vielen Krankenhäusern – bereits einiges getan, wenn man dies mit der Situation vor vielleicht 10 Jahren vergleicht. Ich wußte zwar sofort, daß ich meinen Sohn nicht nur sehen, sondern auch in den Arm nehmen wollte, doch vor Jahren, hätte man mir dies sicherlich versucht auszureden. Seitdem ich die Arbeit der “Verwaisten Eltern” kennengelernt habe, bin ich dankbar, daß sich hier zumindest schon etwas in Bewegung gesetzt hat. Damit es weiter Vorwärts geht und ich auch etwas von dem, was ich bekommen habe zurück geben kann, bin ich dort Mitglied geworden und auch aktiv tätig. Ich würde mich sehr  freuen, wenn ich auch andere überzeugen kann, die Verwaisten Eltern zu unterstützen. Die “Verwaisten Eltern” helfen nicht nur Betroffenen durch Begleitung, Beratung, Information Trauerseminaren, und Kontaktvermittlungen untereinander, sondern informieren involvierte Berufsgruppen wie Ärzte, Hebammen usw. durch beispielsweise Seminare. Darüber hinaus versuchen sie, durch Öffentlichkeitsarbeit aufzuklären. Auf der Seite des  Verwaisten Eltern in Deutschland e.V. (www.veid.de) findet Ihr nähere Informationen sowie die Möglichkeit, ganz einfach Mitglied zu werden.

© Pirko Lehmitz