Wo ist Gott, wenn ein Kind stirbt?

von Reinhard Behnke

Ich bin bescheidener geworden. Der Gott, an den ich glaubte, hat im Kinderkrankenhaus Federn gelassen: die Allmachtsfeder, die Wunderfeder, die Es-wird-immer-alles-gut-Feder. Allmacht und Wunder — das waren für mich so etwas wie Markenzeichen im guten Sinn. Ich hatte sie — so war das nun mal aus den biblischen Geschichten übernommen, ohne daran zu denken, daß der Gott jener Menschen, die hier ihre Erfahrungen erzählen und deuten, mir ganz anders begegnen könnte. Die Wunder, die ich Gott zutraute, hatte ich mir ausgedacht. Die Allmacht, die ich ihm zuschrieb, sollte meine Ohnmacht auffangen. Warum auch nicht? Das geht vielen so.

Nur: Ich habe nicht erlebt, daß Gott meine Wunder tat, und auch nicht, daß er meine Ohnmacht mit Macht aufwog. Im Gegenteil:

Eltern forderten mich auf, mit ihnen gemeinsam für ihr Kind zu beten. Wenig später starb es. Gern hätte ich ein Wunder erlebt. Statt dessen kam, wie befürchtet, der Tod. Gern hätte ich Gottes Allmacht erlebt: ER — gewiß stärker als der zu schwache Herzmuskel des Mädchens. Statt dessen erlebte ich meine Ohnmacht und die der Eltern.

»Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr.« Das sind Sätze aus dem Buch des Propheten Jesaja. Ich schenke ihnen Glauben, wenn sie auch bitter schmecken, denn sie passen zu dem, was ich erfahre. Ich frage: Gott, was für Gedanken hast du denn, und welche Wege gehst du? Gott, ich werde nicht schlau aus dir.

Manchmal sehe ich ein neugeborenes Baby, das sterben muß. Entkräftet liegen seine Arme zu beiden Seiten, und ich denke:

wie Jesus am Kreuz. Die Augen leer. Kein Lebenswille, den ich sehen könnte. Gottverlassen — so sieht es aus. Ich glaube, so was hat Jesus von Nazareth auch erlebt. Ich war nicht dabei. Aber ich fühle mich an ihn erinnert. Wir haben ja alle eine Ahnung vom Tod. Es scheint mir, als stürbe er erneut mit jedem Kind, das nicht leben kann. Wegbegleiter im Tod. Grenzgänger in ein »Land«, das uns nicht offensteht, solange wir leben. Eltern nicht, mir nicht, niemandem. Und nicht nur, daß wir allein zurückbleiben: Es gibt auch kein Verhandeln. Der Tod läßt sich nicht umstimmen, auch nicht bestechen von der Medizin. Es gibt keine Kompromisse. So erlebe ich es.

Deshalb glaube ich nicht mehr an Wunder, obwohl ich es mitunter immer noch gern würde. Wo sich Wunder zu ereignen scheinen und andere Menschen daran glauben, lasse ich das gelten. Was auch sonst? Aber ich rechne nicht mit ihnen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Es ist wirklich mühsam. Ich bin Theologe und Pastor, und mitunter ist meine Enttäuschung über meinen wunderlosen und machtlosen Gott groß. Ich neige dann dazu, die Menschen der Bibel als unaufgeklärt zu sehen und ihren Gott als Einbildung.

Mein eigener Allmachtsgott von früher hat sich ja schon als Einbildung erwiesen. Zumindest vertraue ich ihm nicht mehr. Aber dennoch ist es damit nicht getan. Warum, weiß ich auch nicht genau. Jedenfalls empfinde ich ein argloses Vertrauen in den Momenten, in denen ein Kind stirbt. Ich spüre den Impuls, es zu entlassen, ihm »seinen« Weg zu lassen, aus Respekt und im Vertrauen darauf, daß Jesus, der Gekreuzigte, von dem seine Freunde sagten, er sei auferstanden, ihm ein erfahrener Wegbegleiter ist. Weil dies Vertrauen in mir ist, glaube ich seinen Freunden.