“In einem Krug hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.”

GedenkGottesdienst für verstorbene Kinder:Töchter und Söhne, Geschwister und Enkel

8. Dezember 2001, 16 Uhr
Ev. Gemeindezentrum Kradepohl, Bergisch Gladbach-Gronau

Eingangsvotum

Wir sind hier zusammen gekommen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen, als Hadernde und Zuversichtliche, als Zweifelnde und Glaubende, als Menschen, die im Glauben leben, und als solche, denen der Glaube schwindet oder gar verloren gegangen ist.
Verschieden sind wir, und doch gibt es eins, was uns verbindet: die Trauer um Töchter und Söhne, Brüder und Schwestern, Enkel, Patenkinder, Neffen, Nichten, Freunde.
So wie wir sind, sind wir eingeladen, vor Gott zu treten. Denn vor Gott dürfen wir gerade auch mit unser Trauer sein. In Seinem Namen dürfen wir hier sein, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Klage/Klagepsalm

1. Hinführende Gedanken zum Klagen
Menschen, die inne halten vor Gott, beschreiten einen Weg, machen sich auf den Weg. Auf diesem Weg gibt es verschiedene Stationen. Eine Station ist immer auch die der Klage. Für uns Menschen ist es lebenswichtig, dass wir klagen dürfen.
Denn: Klagen befreit. Es hilft, Versteinertes, Verhärtetes zu lösen – es zum Fliessen zu bringen. Klagen hilft, zu verwandeln und neue Lebenswege zu öffnen.
So wollen auch wir unsere Klage vor bringen, ihm sagen – in Worten und in der Stille –, was uns entsetzt und schmerzt, was uns zweifeln und verzweifeln lässt was uns wütend und sprachlos macht.

2. Klagen – (Elke Sonnenberg)
Gott, ich klage dir meinen Zustand. Ich rede von dir und fühle mich dennoch verlassen. Ich möchte dir vertrauen und ängstige mich dennoch.
Was ist geschehen?!? Weisst du was das bedeutet, dass da ein Kind – eine Schwester, ein Bruder, ein Mensch – nicht mehr da ist? Siehst du das?!? So vieles – ja manchmal habe ich das Empfinden – alles ist aus dem Rhythmus gekommen. Ich lebe im Chaos. Das macht mir Angst und verstört mich zutiefst.

So rede ich zu dir, Gott, und weiss doch nicht, ob du mich hörst.

Einsamkeit umgibt mich. Es ist so still um mich herum und so manches Mal reisst mich das Nichts in seinen Strudel. Ich stürze und weiss nicht wohin. Das zermürbt. Das macht müde und kraftlos. Das klage ich dir, Gott.

Gott, so gerne möchte ich glauben, dass du da bist als mein Wegbegleiter, und dennoch sehe ich so oft keinen Weg. Ich möchte glauben, dass du mir Licht zugedacht hast, aber ich versinke in meinen dunklen Gedanken. Es ist leer in mir. Mir fehlen die Worte. So klage ich dir in der Stille mein Leid, meinen Schmerz, meine Wut.

Stille

Gott, vor deine Füsse werfen wir unsere Klagen und hoffen – hoffen –, dass du sie hörst. Berge du uns. Zeige uns einen Weg, wenn wir durch dunkle Nacht wandern müssen. Amen.

Biblische Lesung: Psalm 56 (i.A.) – (Ute Rapp)

Du, Gott, hast die Tage meines Elends gezählt; es ist aufgezeichnet bei dir. In einem Krug hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.
Ich habe erkannt: Gott steht mir zur Seite. (…) So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Ansprache – Psalm 56 (Vers 9+10)

Liebe Mütter und Väter, liebe Geschwister und Familien, liebe Mitmenschen!

In den vergangenen Tagen und Wochen habe ich mich langsam an das Thema heran getastet; es ist nach und nach gewachsen. Warum ich mich auf dieses Thema zu bewegt habe: Ich glaube, weil es mir selbst in diesem Jahr sehr nahe gewesen und gekommen ist.Eigentlich bin ich kein Mensch der viel oder schnell weint – so habe ich gedacht, aber dieses Jahr hat manch´ andere Erfahrung mit sich gebracht: Tränen waren oder sind plötzlich da und fliessen, und ich habe viele Menschen mit ihren Tränen gesehen.Ich habe erlebt, wie Tränen Angst machen können: bei anderen und mir. Ich habe gesehen und erlebt, wie Tränen lösen und erleichtern: andere und auch mich selbst.

Tränen gehören zum Menschen; sie sind menschlich – ja: machen uns zu Menschen; sie lassen Gefühle der Trauer und manchmal auch der Freude (ab)fliessen. Tränen erzählen Geschichten. Gerade auch die Tränen, um die wir wissen, können Geschichten erzählen – unzählige!: Geschichten von Menschen, die nicht mehr unter uns leben und die dennoch sehr gegenwärtig für uns sind. Geschichten von Schwestern und Brüdern, von Söhnen und Töchtern, Onkel, Tanten, Cousins, Freunden, … .

Wohl niemand mag ermessen, wie viele Tränen um sie geweint worden sind und auch nach Jahren immer wieder um sie fliessen. Denn wir Menschen weinen, wenn der Schmerz eines Verlustes uns trifft. Wir weinen aus Wut und Scham, aus Reue und Enttäuschung.

Manchmal finden Tränen auch keinen Weg nach draussen, stauen sich in einem an wie in einem Stausee. Mich erinnert daran ein Text, den eine betroffene Schwester aus unserer Kölner Geschwistergruppe geschrieben. Er geht nicht direkt über Tränen, aber er spricht von der Wut, und mit ihr ist es oft ähnlich wie mit den Tränen:

We, Uh, Te   (Elke Sonnenberg)

Wut, da ist sie wieder,
wie so oft in letzter Zeit,
rund, dick,
mitten im Bauch,
nicht loszuwerden,
ein Klumpen, ein dicker, fetter Klumpen,
inzwischen weiss ich wenigstens, wo er hingehört
und manchmal schaffe ich es, ihn loszuwerden,
ohne dass er sich wieder gegen eine Person richtet,
vielleicht Wut über den Verlust,
der so sinnlos erscheint,
nicht greifbar wird,
Wut, die sich jetzt bereits wenigstens ab und zu einmal in Tränen auflöst.
Aber ich kann das Schwert nicht immer finden,
und dann sitzt sie weiter in meinem Bauch,
frisst an mir,
dick, fett, keine Farbe, kein direkt zu benennender Grund,
kein leicht zu findendes, zufriedenstellendes Ventil.

Wut – Tränen: sie sind hier eindrücklich beschrieben. Und es ist gut, sie so oder anders auszudrücken – sie hörbar, sichtbar zu machen.

Hier vorne haben wir ein blaues Tuch ausgelegt: einen Fluss, in das viele Tropfen – auch Tränen – geflossen sind. Wir laden Sie und Euch ein, diesem Meer sichtbare Tropfen – sichtbare Tränen – zu geben. Denn unsere Tränen, die Geschichten erzählen, sind nicht namenlos. Vielmehr tragen sie Namen, die tief in uns eingraviert sind. Die Kinder, um die wir trauern, sind gegenwärtig; sie haben Namen – wir geben ihnen Namen – wir nennen sie beim Namen. Darum laden wir Euch und Sie ein – jeden der mag – auf einen Tränentropfen den Namen des Kindes zu schreiben, um das Sie und Ihr trauert und den Tropfen dann – so Sie und Ihr mögt – auf das blaue Flusstuch zu legen. Vielleicht mögen manche zu dem Namen des Kindes ein Symbol malen. Und bei manchen ist es vielleicht auch so, dass sie um ein Kind trauern, das keinen Namen bekam, weil es sehr früh – während der Schwangerschaft – starb. Vielleicht haben Sie ein Zeichen oder auch ein bestimmtes Wort, das Sie wie einen Namen mit Ihrem Kind verbinden. Wer mag, hat nun Zeit, eine Träne zu beschriften – gemeinsam oder auch allein – und sie auf den blauen Fluss zu legen.

Ansprache Teil II

Tränen erzählen Geschichten. Sie sind nicht nur ein Tropfen Wasser, sondern bergen in sich ein ganzes Universum. Darum sind sie so kostbar. Nicht zuletzt deswegen sind sie auch so wert geachtet von Gott. Er vergisst keine Träne. In den Psalmen spricht eine Beterin – ein Beter:

Du, Gott, hast die Tage meines Elends gezählt; (in einem Krug) hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.

Gott hebt unsere Tränen auf – ja: er schreibt sie selbst ins Buch des Lebens ein, denn er will sie vor dem Vergessen bewahren. Er sammelt sie in einem Krug auf! Tränen – von Gott gezählt wie kostbare Perlen. Sie sind ihm wichtig. Er lässt sie nicht im Unsichtbaren versiegen, sondern sammelt sie, hebt sie auf; und zeichnet sie in sein Buch des Lebens. Weil Gott die Tränen aufbewahrt; weil er mit ihnen Geschichte schreibt und sie ein für allemal aufhebt, sind sie nicht verloren und können zu neuem Leben helfen.

Denn Tränen lösen das Verhärtete; sie geben dem Starren Lebendigkeit zurück; sie lassen den Schmerz fliessen, der nach aussen dringt, der `raus will aus unserem Körper, der Ausdruck braucht, damit er wenigstens Schritt für Schritt fassbar und begreifbar wird.

Tränen – gespürt in mir drinnen – vielleicht festgehalten auf Zeit und geweint aus Trauer um einen lieben, vertrauten Menschen sind nicht zuletzt auch ein Ausdruck der Liebe, der Beziehung, der Verbundenheit zu diesem Menschen.

Tränen schmerzen und doch haben sie zugleich auch Erlösendes. Denn sie fliessen und bringen damit in Bewegung. Sie sind etwas Lebendiges und helfen zum Leben, zum Neuwerden, zum Wachsen; Tränen – so widersinnig es sich für manchen anhören mag – Tränen sind eine Gabe; eine Gabe Gottes gegen Versteinerung und Todesstarre. Und wenn sie geweint werden und hinausfliessen, dann landen sie doch nicht im Nichts, sondern wie der Psalmbeter es sagt: In einem Krug hebst du, Gott, meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens. Und eine Zeit später kann dieser Menschen sagen: So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Da, wo Tränen sein dürfen, wo sie nicht vergessen werden, wo sie geborgen und aufgehoben sind, da kann es geschehen, dass wieder Licht auf dem Wege aufleuchtet. Da kann ein Mensch – vorsichtig tastend, beseelt, getragen von Hoffnung – sagen: Ich gehe vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Licht ist für uns Menschen lebenswichtig. Als Trauernde spüren wir dies oft in besonderer Weise.

Licht – der Schein einer Kerze – ist unaussprechlich wichtig. Denn eine Kerze gibt Wärme, und sie erhellt die Dunkelheit. Kerzen sind wie Boten, die davon erzählen, dass es Licht und Wärme gibt auch jenseits aller Grenzen,
die uns so beschwerlich sind.
Kerzen können unser Leben erhellen und einen Lichtschein in die dunkle Welt hineinbringen. Sie sind Lebenszeichen, und sie sind Zeichen der Erinnerung.

Dass Kerzen an das Leben erinnern – daran, dass wir leben, das soll uns diese rote Kerze erzählen. Diese Kerze wollen wir für uns anzünden: für uns, die wir leben. Rot ist sie wie das Blut, das in uns fliesst, das Leben ist und Leben bringt. Wir wollen sie anzünden, auf dass uns immer wieder ein Licht aufgeht und wir nie vergessen, wie kostbar das Leben ist.

Rote Kerze entzünden

Und zum Gedächtnis an die verstorbenen Kinder, an die Brüder und Schwestern, die Menschen, die uns als Freund, Enkel, Cousin vertraut waren und sind, zünden wir diese sonnengelbe Kerze an. Sie leuchtet zum Gedächtnis derer, die uns – zur Unzeit, viel zu früh – vorangegangen sind.

Gelbe Kerze entzünden

Licht für uns und für die verstorbenen Kinder: Das soll in unserem Gottesdienst seinen Platz haben dürfen. Und so laden wir Sie und Euch, ein jeden und eine jede, die mag, eine Kerze anzuzünden und sie im Glas auf die Träne zu stellen.

Ansprache – Teil III

Kerzen brennen für uns und die Kinder. Sie sind Zeichen für Gottes Wärme und Licht. Sie wollen uns erinnern: Gott ist das Licht, das nicht verlischt, das scheint, damit wir leben, damit wir Leben neu gewinnen und damit jene leben, die durch den Tod hindurch gegangen sind.

Das Vertrauen, die Hoffnung, dass Gott da ist, dass ER sogar im Dunklen wohnt und ihm nicht entflieht, dass ER das Dunkle, Unwirkliche, Schmerzliche mit aushält: das ist uns als verwaisten Geschwistern, als verwaisten Mütter, Vätern, Grosseltern, als Freunden und Wegbegleitern betroffener Familien oft unbegreifbar.

Und doch gibt es diese Hoffnung. Und ist sie manchmal noch so brüchig und wackelig, so spüren Menschen sie doch immer wieder aufs neue in sich.
Der Psalmbeter – die Psalmbeterin haben sie damals – vor langer, langer Zeit – in sich getragen. Und seitdem haben Menschen ihre Worte immer wieder nachgesprochen: vorsichtig tastend – dann vielleicht auch manchmal voller Zuversicht und Kraft. Auch wir sind eingeladen, diese Worte für uns zu probieren – sie zu buchstabieren, vielleicht nur ganz zögerlich und verhalten, und dennoch in dem Vertrauen, dass sie wahr und wirklich sind.

In einem Krug hebst du, Gott, meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.
So gehe ich vor dir, Gott, meinen Weg im Licht der Lebenden.
Amen.

Fürbitte

In einem kleinen Buch von Jörg Zink gibt es eine Passage, die mich sehr fasziniert und die ich gerne unserem Fürbittengebet voranstellen möchte. Jörg Zink schreibt:

(Ute Rapp)
Manche fragen mich: “Darf man für die Toten beten?” Ich wüsste nicht, was uns hindern sollte.
Sie sind ja nicht tot, sondern leben. Gott – sagt Jesus – ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebendigen. Hier wie drüben. Wenn uns das Gebet mit Menschen verbinden darf, die am anderen Ende der Welt sind, dann doch auch mit denen, die sie verlassen haben. Sie empfangen, was wir ihnen senden, auf dem Weg über die Güte Gottes, die sie auch dort geleitet.

(Dagmar Ibe)
Guter Gott, lass uns nicht verzweifeln und gib uns Kraft mit dem viel zu frühen Tod unserer Kinder weiter zu leben. Lass uns irgendwann wieder die Schönheiten Deiner Erde sehen.
Guter Gott, nimm unsere Kinder auf in Dein Reich und behüte sie. Stärke uns in dem Glauben, dass es Ihnen da, wo sie jetzt sind, an nichts mangelt und dass es ihnen sehr gut geht.

(Michael Laimmer)

(KV)
Gott, wir bitten dich für alle, die trauern und weinen, deren Herz schwer ist und deren Inneres wund.
Für sie bitten wir dich um deinen heilenden Geist.
So bitten wir dich auch für uns: Steh uns bei in unserem Schmerz. Sei an unserer Seite und gebe uns Gewissheit und Zutrauen in deine Nähe.

(Dagmar Ibe)
Guter Gott, wir danken Dir für die Menschen, die immer noch mit uns trauern und die immer wieder mit uns über unsere Kinder sprechen und somit dazu beitragen, dass unsere Kinder nicht vergessen werden.
Guter Gott, wir bitten Dich weltweit für die vielen Eltern, die im letzten Jahr ihr Kind verloren haben. Tröste sie in Ihrem furchtbarem Leid.

© 2001 Kristiane Voll