Predigt aus dem Gottesdienst Zwischenhalt „Abschiednehmen“

vom 19.11.2006 St. Paulus (Buchholz i.d.N.)

Abschiednehmen06
Pastorin Bürig

von Pastorin Christiane Bürig

Liebe Gemeinde,

das Leben besteht aus Abschieden. Ich denke zunächst an die vielen kleinen Abschiede im Alltag. Wie oft sagen wir Tschüß! Oder: bis Morgen!

Und es gehört auch mancher endgültige Abschied dazu, ich denke jetzt noch gar nicht an den Tod. Auch das Leben bringt endgültige Abschiede: Trennungen von Paaren, Freundschaften, die im Sande verlaufen, Nachbarn, die wegziehen. Für viele der älteren Generation der Abschied von der Heimat und ihren vielen Gesichtern durch die Flucht.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Irgendwann ist es das erste Mal der Tod eines nahen Menschen.Irgendwann ist da unser eigener Tod, Abschied vom Leben auf diesem wunderschönen Planeten mit den Tautropfen auf dem Gras, dem Baumrauschen und den Menschen, die wir lieben.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Pastorin Christiane Bürig

Daß der endgültige Abschied Tod in unserer Gesellschaft weggeschoben und an den Rand gedrängt wird, ist ein Phänomen, das oft besprochen wurde. Bestatter fahren in grauen Wagen, wir sprechen von „entschlafen“ oder „eingeschlafen“, gestorben wird im Krankenhaus, oft auch, wenn es die Situation überhaupt nicht erfordert hätte. Die Medizin hat den Tod soweit hinausgeschoben wie möglich, so weit, daß einem Angst und Bange werden kann und wir mit Patientenverfügungen reagieren. Die sollen sicherstellen, daß wir irgendwann dann auch mal sterben dürfen.

Der endgültige Abschied Tod wird an den Rand gedrängt. Wir sehen es auch daran, wie unsere Rituale um Sterben und Tod verdorrt sind. Die Bestattung im engsten Kreise – selbst da wo ein Verstorbener mitten im Leben stand… sollen Nachbarn, Freundeskreis, Kollegen keinen Abschied nehmen dürfen?

Die anonyme Bestattung – wir leben doch auch mit einem Namen, warum dürfen wir nicht mit einem Namen sterben? Angehörige, Bekannte werden des Ortes beraubt, an dem sie weinen, Zwiesprache halten oder einfach sich besinnen können.

Oder die Tatsache, daß viele Familien ihre Kinder nicht mit zur Beerdigung nehmen, obwohl die es gerne würden – noch nicht einmal zum Abschied von Großeltern, die sie doch lieb hatten. Auch ein Kind hat eine Recht aufs Abschiednehmen.

Der Tod verdrängt – wir sehen es auch daran, wieviel Wissen über Trauerprozesse verloren gegangen ist.

Wieviele Witwen haben mir erzählt, daß sie ihren Mann als anwesend fühlen, nicht sichtbar, aber wahrnehmbar anwesend in der Wohnung, wie ein Schatten jenseits des Blickfeldes – und jede dachte, jetzt wird sie verrückt. Dabei scheinen solche Erfahrungen zum Trauern dazu zu gehören. Oder daß wir immer vom „Trauerjahr“ sprechen, als sei es dann geschafft. Dabei scheinen Trauerwege eher eine Art Spirale zu sein, wo man immer wieder an die gleichen Punkte kommt: Weihnachten, Hochzeitstag, nach Jahren noch die gleiche Traurigkeit, nur daß sie im Laufe der Zeit schneller zu bewältigen ist.

Oder daß wir immernoch vom „loslassen“ reden. Niemand kann einen geliebten verstorbenen Menschen loslassen. Es muß sich nur die Art der Beziehung ändern zu einer verinnerlichten Form des Kontakts.

Der Tod verdrängt – wieviel Unsicherhiet das mitsichbringt: wie sollen wir Trauernden begegnen? Wie sollen wir Sterbenden begegnen? Aus Angst vor unseren Gefühlen, treten wir die Flucht an.

Uns fehlt eine Kultur des Sterbens und des Trauerns. Das Wissen früherer Zeiten ist verloren gegangen. Ein neues, in unserer Zeit passendes Wissen muß erst noch entwickelt werden.

Solange wir auf der Flucht sind, vergrößern wir das Leid. Das Leid der Betroffenen, und unser eigenes.

Eines müssen wir uns dabei klar machen: Es wird so tausend- und abertausendfach gestorben auf der Welt. Gewalt ist im Spiel und Hunger und Verwahrlosung, ungerechte Strukturen, verseuchtes Trinkwasser und Krieg… wie oft ist da überhaupt keine Gelegenheit, mal eine Hand zu halten. Wir haben zur Zeit in unserer Gesellschaft das große Glück, daß die Not nicht über uns zusammenbricht, sondern daß Spielraum da ist, daß wir die Möglichkeit haben, uns um Sterbeprozesse zu kümmern…Wir sollten diese historisch und global betrachtet glückliche Lage nutzen und es für die sterbenden Menschen gut machen!

Wie das aussehen kann – dafür hat die Hospizbewegung zwei zentrale Antworten. Denn was ist die größte Angst, wenn wir an unser Sterben denken?

Daß wir Schmerzen leiden müssen. Die Medizin kann Schmerzen inzwischen sehr, sehr gut und auf den Patienten zugeschnitten verhindern. Auf dieses Thema wurde sie von der Hospizbewegung angesetzt und hat große Erfolge erzielt.

Die zweitgrößte Angst ist: Einsam zu sterben. Auch darauf hat die Hospizbewegung eine Antwort, wenn entweder Sterbende Zuhause von ehrenamtlichen Sterbebegleitern aufgesucht werden oder wenn sterbenden Menschen in einem Hospiz begleitet werden.

Für mich ist die Hospizbewegung schon eine Antwort auf die Tabuisierung des Todes in der Gesellschaft und eine Trendwende.

Wir fangen an, wieder dahin zu schauen.

Ein Hospiz ist mehr als ein Ort zum Sterben. Es ist ein Zentrum, das sein Wissen und seine Erfahrungen ausstrahlt. Die Angehörigen, deren sterbender Mensch im Hospiz lebt, werden zugleich entlastet – was die Pflege angeht – und herangeführt – was die Begleitung angeht. Ein Lern – und Erfahrungszentrum zum Thema Abschied nehmen. Nach und nach können immer mehr Menschen von der Tabuisierung und Überforderung zu einer Kultur des Sterbens und des Trauerns finden. Zu einer Kultur des Abschieds.

Und indem wir tiefer dahineinschauen, stellen wir plötzlich fest: Indem wir mehr über den Tod und den Abschied und das Trauern lernen, lernen wir mehr über das Leben!

Am besten kann ich das an einer eigenen Erfahrung zeigen. Der Tod gehört nämlich immer mit in  mein Leben. Mein Vater starb relativ früh – und in meinem Beruf geht es ja jede Woche um Trauern und Abschied. Und ich dachte eine ganze Zeit, daß ich damit ganz gut versöhnt sei. Bis ich einen 34-Jährigen zu beerdigen hatte. Und ich war da gerade 34. Das war etwas anderes. Und ich dachte: O.K., jeden Tag, den ich ab jetzt habe, habe ich mehr als er. Was mache ich denn damit? Und plötzlich war mir klar: Tod und Leben gehören zusammen, nicht nur so, daß der Tod eben das Leben begrenzt, sondern so, daß er es intensiviert, Vertieft. Überhaupt als wertschätzendes Leben ermöglicht.

Erst wenn ich die Grenze anerkenne und fühle, kann ich fragen, was innerhalb dieser Grenzen geschehen soll. Qualität des Lebens! Und dann auch des Sterbeprozesses. Vielleicht gerät die Frage nach der Länge des Lebens sogar in den Hintergrund angesichts der Frage nach der Qualität. Im Hospiz jedenfalls geht es nur noch um diese Qualität. Leben ganz im Jetzt, wo man über die Zukunft und die Länge nichts Hoffnungsvolles mehr sagen kann.

Insofern ist das Hospiz nicht nur ein Modell für das Sterben, sondern auch ein Modell für das Leben. Intensiv. Im Jetzt. Ehrlich. Verbunden mit den Gefühlen.

Das Leben besteht aus Abschieden. Trotzdem den Tod verdrängen? Das hat sich nicht bewährt. Weder für Sterbende, noch für Trauernde. Noch für das Leben mit seiner Qualität selbst. So fangen viele Menschen langsam wieder an, sich den Gefühlen zu stellen. Und machen die Entdeckung, daß das Hinschauen, das Nichtfliehen, daß das bereichert.

Wie in unserer Geschichte. Nur wenn wir die Traurigkeit, den Schmerz wirklich fühlen, geht es weiter. Das hilft. Das verbindet mit anderen. Das vertieft. Das läßt uns das Leben wertschätzen. Nur durch die Traurigkeit, den Schmerz hindurch geht es weiter, nicht daran vorbei. Es ist wie wenn wir durch die Traurigkeit hindurchtauchen, oder wie wenn wir den Schmerz austrinken… Der Traurigkeit ins Auge schauen – dann entsteht neue Hoffnung. Dann entsteht neue Daseinsfreude. Dann entsteht Qualität im Leben.

Das Leben besteht aus Abschieden. Was über diese Gedanken vom Glauben her hinaus noch zum Thema Abschied zu sagen ist, bringt das nächste Lied wunderbar zum Ausdruck, wie ich finde.