Kennenlernen und Abschied

aus der Broschüre Gute Hoffnung, jähes Ende von Hannah Lothrop

Entgegen landläufiger Meinung ist das Bestehen und die Entwicklung einer Bindung zum Baby die beste Voraussetzung für ein heilsames Abschiednehmen, ein Wieder-heil-werden-Können und die Fähigkeit, später neue Bindungen eingehen zu können. Deshalb ist es wichtig, daß der Prozeß der Bindung stattfindet, vollendet und nicht abrupt unterbrochen wird, selbst wenn das Baby tot ist oder stirbt.Gutehoffbrosch

Wir brauchen konkrete Erinnerungen an unser Kind. Dafür hat es sich als positiv erwiesen, unserem toten Baby wirklich begegnen zu können: es genau anzusehen, zu berühren, im Arm oder – wenn es noch sehr klein ist – in unseren Händen zu halten und es vielleicht, je nach Situation, auch zu baden und anzuziehen – die einzige Gelegenheit, die wir dazu je haben werden. Wir brauchen Zeit, die Einzigartigkeit dieses Kindes wirklich in uns aufzunehmen.

Das Loslassen-Lernen, was im Leben allmählich geschehen kann, uns aber wahrscheinlich nicht immer gelingt, müssen wir nun in kurzer Zeit und unter schwierigen Umständen leisten. Wir brauchen dabei jede nur erdenkliche Unterstützung.

Das Entstehen einer Bindung ermöglichen

In meinen Gesprächen sind mir keine Eltern begegnet, die im nachhinein wünschten, sie hätten ihr Kind nicht gesehen. Doch fast alle Eltern, die es nicht sahen, sprechen auch Jahre danach noch Bedauern darüber aus oder Wut auf das Pflegepersonal, das sie um diese Möglichkeit gebracht hat. Manche davon waren offensichtlich in der zweiten Stufe des Trauerprozesses steckengeblieben, spürten auch noch nach langer Zeit eine unstillbare Sehnsucht und Unruhe in sich. Es fiel ihnen schwer, mit dem Tod Frieden zu schließen und ihn anzunehmen.

Der Anblick unseres Kindes tut zuerst ungeheuer weh. Aber es ist dabei wie mit einer Wunde, die verätzt wird. Das tut zuerst auch mehr weh, aber sie heilt dann schneller und sauberer. Wenn Eltern zunächst nicht die Kraft oder den Mut haben, ihr Kind selbst zu sehen, sollte auf alle Falle jemand anderes in der Lage sein, ihnen später ihr Kind genau und liebevoll zu beschreiben, wenn sie dies wünschen oder zur Trauerverarbeitung sogar brauchen.

Der Anblick eines toten Babys

Neugeborene sehen oft so aus, als ob sie sich noch auf einem anderen Stern befanden, so ganz weit weg, in einer anderen Welt. Tote Babys sehen so aus, als ob sie von diesem Stern nie ganz bei uns angekommen sind.

Wenn Babys mit Fehlbildungen zur Welt kommen, stellt sich die Frage, ob die Eltern ihren Anblick verkraften können. Erfahrung hat gezeigt, daß die Realität nie so schlimm ist wie die Monsterfantasien, die Eltern entwickeln, wenn sie ihr Kind nicht sehen. Fehlbildungen werden oft nicht wahrgenommen oder stehen zumindest nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern Eltern verweilen bei dem, was an ihrem Kind schön und einzigartig ist. »Eltern sehen ihr Kind mit den Augen des Herzens und nicht aus der klinischen Sicht des medizinischen Betreuungspersonal« (Sr. Jane Marie Lämb).

Das medizinische Betreuungspersonal meint manchmal, daß »man ein totes Kind ein paar Stunden oder Tage danach nicht mehr anschauen könne«. Ein Bestatter hingegen äußerte mir gegenüber gerade, daß er Babys auch am dritten Tage noch zeige, und er meine, daß sich ihr Anblick sogar verbessere. Eltern konzentrierten sich sowieso auf das Wesentliche und würden etwaige Veränderungen nicht so sehr registrieren.

Wenn wir glauben, daß wir oder uns nahestehende Menschen unser Kind noch einmal sehen möchten, sollten wir dies dem Betreuungspersonal sagen. Ein totgeborenes oder nach der Geburt verstorbenes Baby kann in einem kühlen Raum im Untergeschoß des Krankenhauses aufgebahrt werden, wo auch andere Verstorbene liegen.

Wenn uns der Wunsch überfällt, unser Kind zu sehen, nachdem es bereits weggebracht worden ist, sollten wir mit dem Personal sprechen. Falls unser Kind untersucht werden soll, um die Todesursache festzustellen, kann es möglicherweise schon zur Pathologie gebracht worden sein. Es kann, zwar mit etwas Aufwand, gegebenenfalls von dort zurückgeholt werden, oder wir können den Bestatter bitten, es uns noch einmal sehen zu lassen. Es anzuschauen, wenn unser Hormonsystem sich einigermaßen normalisiert hat, kann uns helfen, die Endgültigkeit seines Todes noch besser zu realisieren, was uns in unserem Trauerprozeß weiterbringt.

Oft haben wir Angst, das auszusprechen, was wir uns im Innersten wünschen. Wir scheuen uns, Fragen zu stellen. Wir fürchten, daß unsere schlimmen Fantasien bestätigt werden. Wir mögen Hemmungen haben, im Schock gemachte Äußerungen zu widerrufen. Doch später ist es zu spät! Dies uns klar zu machen, gibt uns im Moment vielleicht die nötige Kraft.