Auf Altäre wollte ich schlagen

aus dem Weihnachtsheft des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland

„Mikael ist tot“. Dieser Satz steht mitten im Raum. Ich bin nirgends. Der Raum wird endlos, hat keine Grenzen, ist luftleer, ist farblos. „Ihm geht es gut!“ Niemand sagt dies, doch ich höre es, laut und deutlich. „Mikael ist tot“, dieser Satz im Raum wird größer, wird schwarz und schwärzer, dehnt sich, füllt den Raum, ballt sich urplötzlich zu einem Riesengeschoß und saust ungebremst auf mein Herz. Ich bin nicht da, nur mein Herz, das schwarze. Jeder Herzschlag ein Hammerschlag, lauter, größer, noch lauter, noch größer – das Herz füllt den Raum, es droht zu bersten.

Die Wochen und Monate danach. Immer wieder: „Ihm geht es gut.“ Dieser Satz ist in mir, er verlässt mich nicht. Aber mir geht es nicht gut! Verdammt noch mal!! Ich gönne Gott meinen Sohn nicht! Mikael fiel in seine Hände, dessen bin ich mir sicher, aber was ist mit mir? Wie kann ich Gott mein Leid klagen, ihn um Trost bitten, wenn er doch der Verursacher meines Leids ist? „Dein Wille geschehe“, diese Gebetsstelle verschließt meine Lippen, verhärtet mein Herz. Ganz undeutlich taucht manchmal ein Bild auf: Weit unter mir, von Wolken umhüllt, schweben Gottes Hände. Doch der Weg dorthin ist weit und mir unbekannt. Mikael ist bei Gott, aber ich will ihn hier haben, hier bei mir, meinen 19 jährigen, zärtlichen Sohn! Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich vor einem Problem, das ich nicht lösen kann, egal, was ich tue, egal, was mir einfällt! Machtlos bin ich, hilflos, ausgeliefert. Wem ausgeliefert? Amok laufen will ich. Ich will in alle Kirchen rennen, will auf die Altäre mit meinen Fäusten schlagen, bis sie bluten, bis ich zusammenbreche. Will Zettel auf die Altäre legen: „Betet für mich! Mein Sohn ist tot!“

Gott ist da, das weiß ich, aber alle meine Vorstellungen über ihn, über unser Verhältnis zueinander stimmen nicht mehr. Ich finde keinen Anfang zum Nachdenken, habe auch keine Zeit und keine Kraft dafür. Ich kämpfe mit dem puren Überleben, ertrage die Einsamkeit in der Familie nicht, denn mein Mann und meine 17 jährige Tochter schweigen. „Was gibt es da zu reden? Er ist tot. Akzeptiere das endlich!“ Und doch taucht manchmal, wenn mir ein Mensch ganz nah begegnet, das Gefühl auf: „Den hat dir Gott geschickt.“

Fünf Monate nach Mikaels Tod habe ich Geburtstag. Wie kann ich den Tag überleben? Ich nehme mir dienstfrei, denn ich weiß, dass ich nicht fähig sein werde, zu arbeiten, aber ich sage meiner Familie nichts davon. Ich stehe wie gewohnt früh auf, will nur weg. Aber ich komme nicht weit, ich steh plötzlich vor unserer Dorfkirche. Da ich einen Schlüssel zu ihr besitze, schließe ich sie auf und schließe hinter mir wieder zu. Und dann sitze ich acht Stunden in meiner Kirche auf der Erde, habe den Rücken an den Altar gelehnt, all die Fotos meines Sohnes, die ich immer bei mir trage, im Halbkreis um mich gelegt, seine Brille wie jeden Tag in der Hosentasche. So lese ich das ganze Buch Hiob. Ich höre Hiob, wie ich ihn noch nie hörte. Das rettete mich über diesen Tag.

Das Gedicht von Frau Bryan habe ich sechs Monate nach Mikaels Tod das erste Mal gelesen. Es erschien mir unglaublich, dass ich jemals dort ankommen könne, wo sie angekommen ist. Ich wusste, wenn ich je den Weg schaffe, dann wird es ein sehr, sehr langer und beschwerlicher Weg sein! Irgendwann entdecke ich Jesus als meinen Begleiter. Er hat auch gelitten, er war auch oft einsam, er geht nun neben mir, ihm kann ich erzählen, er hält meine Hand. Als ich mich eine zeitlang selbst nicht mehr spürte, sehe ich in einem Wachtraum einmal drei Engel an Mikaels Grab stehen und höre, wie sie über mich reden, und mich segnen.

Und dann fällt mir das Buch „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“ von Rabbi Kushner, in die Hände. Nun muss ich nicht mehr nach einem Anfang suchen, da ist ein Knoten geplatzt, ich kann auf- und durch-atmen. Ja, so ist es: Gott hat nicht gewollt, dass mein Sohn stirbt, Gott hat mir dieses Leid nicht angetan. Er wollte dies nicht. Aber er war da im Moment des Todes, Mikael fiel in seine bergenden Hände. Und diese Hände bilden auch den Boden des mir bodenlos erscheinenden, schwarzen Loches, in dem ich immer noch falle. „Dein Wille geschehe“ heißt nun für mich: „Gott will, dass ICH lebe“, und ich spreche laut mit: „Dein Wille geschehe“ und nehme es als Auftrag, weiterzuleben und mit meinem Leben etwas anzufangen.

In den vier Evangelien lese ich die Geschichten nach, in denen Jesus nach seinem Tod verschiedenen Menschen begegnet. Ich entdecke, dass er den Menschen ihre völlig verschiedenen Trauerwege lässt. Niemandem sagt er: Tu dies nicht – tu jenes nicht. Er begegnet ihnen mitfühlend, er begleitet sie, er lässt sie reden, weinen, zweifeln und schweigen. Das lässt mich begreifen, dass es keinen falschen, keinen besseren Trauerweg gibt, dass jeder Weg für den jeweiligen Menschen gut und richtig ist. Das hilft mir, meinem Mann und meiner Tochter nicht mehr mit innerem Zorn und Vorwurf zu begegnen.

In mehreren Schreibwerkstätten für Trauernde arbeite ich mit Gott und entdecke meine Wege mit und zu ihm. Heute, nach zwölf Jahren habe ich den Weg von Frau Bryan geschafft: Ich weiß nun, dass Mikaels Leben nicht abgebrochen, sondern vollendet ist, auch wenn ich das nicht verstehe. Ich kann Gott von Herzen danken, dass ich diesen Sohn 19 Jahre bei mir haben durfte, dass er mir so nahe war und dass er so war, wie er war. Der Satz: „Ihm geht es gut“ hat mich nie verlassen. Ich denke heute, dass er von Gott entstammt.

Gisela Sommer