Sterne in der Nacht

Botschaften von Kindern an der Grenze des Lebens
von Rainer Krockauer

Von der Gewissheit, aufgefangen zu werden

Selmas Wunsch war, wie sich die Mitschülerin erinnert, nach dem Leben »bei Gott zu sein, bei dem, der ihr half, den Weg ihres Lebens zu gehen«. Ihre Kraft sei zwar zu Ende gegangen, aber ihr Glaube sei geblieben. Es war der Glaube, der sich anschaulich in jenem Satz ihres Sterbebildes ausdrückt. »Du NAHMST mich, Herr, BEI DER HAND und führtest mich nach deinem Willen.« Das deutsche Wort »Glaube« rührt von der hebräischen Wortwurzel »aman« her, was so viel wie »fest, zuverlässig« sein bedeutet.

In der Bibel drückt sich darin das Verhältnis der Menschen zu ihrem Gott aus. Glauben heißt, fest und sicher stehen, hoffen, (ver)trauen, sich bergen. Dabei antwortet der Glaube des Menschen auf die oft überraschende und unverdiente Zuwendung Gottes zum Menschen. Gott gibt sich dabei in Lebensgeschichten von Menschen zu verstehen. Ais dem Mose vor mehr alis dreitausend Jahren dieser Gott in einem brennenden Dornbusch erscheint und sich alis Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu erkennen gibt, der herabgestiegen ist, das Leid der Menschen kennen gelernt hat und Mose beauftragt, das Volk von der Unterdrückung zu befreien, da bittet Mose Gott um seinen Namen. »Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der > Ich bin da<« (Exodus 3,14).

Der verstorbene geistliche Schriftsteller Henri Nouwen hat diese Zusage zu erklären versucht: Am Ende seines Lebens faszinierten ihn immer mehr zwei bekannte Trapezkünstler eines Zirkus. Der Mut und das Wagnis, hoch oben im Zirkuszelt ohne Sicherungsseil aufeinander zuzuspringen und vom anderen aufgefangen zu werden, wurden für Nouwen zu einem Bild des Lebens und Sterbens:

»Eines Tages saß ich mit R., dem Leiter der Truppe, in seinem Wohnwagen und unterhielt mich mit ihm übers Fliegen durch die Luft. Er sagte: > Ais Luftspringer muss ich absolutes Vertrauen auf den haben, der mich auffängt. Sie und das Publikum halten vielleicht mich für den großen Star am Trapez, aber der wirkliche Star ist J., mein Fänger. Er muss für mich im Bruchteil einer Sekunde parat sein und mich aus der Luft angeln, wenn ich in hohem Bogen auf ihn zufliege.<

>Wie klappt das immer?<, fragte ich ihn zurück. >Nun<, sagte R., >das Geheimnis besteht darin, dass der Flieger nichts tut und der Fänger alles! Wenn ich auf ihn zufliege, muss ich bloß meine Arme und Hände ausstrecken und daraufwarten, dass er mich auffängt …<

>Und sie tun dabei nichts!<, erwiderte ich ziemlich überrascht. > Nein, gar nichts<, wiederholte R. > Das Schlimmste, was der Flieger tun kann, ist, nach dem Fänger greifen zu wollen. Aber ich soll ja nicht den J. auffangen, sondern er mich. Würde ich nach seinem Handgelenken greifen, könnte ich sie brechen, oder er könnte die meinen brechen, und das wäre für uns beide das Aus! Ein Flieger soll nichts als fliegen, ein Fänger nichts als auffangen; und der Flieger muss mit ausgestreckten Armen völlig darauf vertrauen, dass sein Fänger im richtigen Augenblick nach ihm greift!<

Ais mir R. das mit so großer Überzeugung sagte, kam mir der Ausspruchjesu in den Sinn: >Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist!< (Lukas 23,46). Sterben heißt, völlig auf den Fänger vertrauen! Und wenn man sich eines Sterbenden annimmt, sagt man zu ihm: > Hab keine Angst. Denk daran, du bist Gottes geliebtes Kind.<