Rituale als Lebenshilfe

Aus “Gute Hoffnung – jähes Ende” von Hannah Lothrop, (6. Auflage 1998,S. 102)

Rituale scheinen zu unserem Menschsein zutiefst dazuzugehören. Rituale bauen Gemeinschaft auf und werden andererseits auch von ihr getragen. Wenn die Bedeutung von Ritualen in einer Kultur abnimmt, steigt oft die Orientierungslosigkeit.

Wir können uns ganz eigene oder familienbezogene Rituale schaffen. Rituale dienen dazu, innere Prozesse durch rituelle Handlungen im Außen sichtbar zu machen. Die stille Sprache der Symbolik fördert unser Verstehen und Verarbeiten auf einer tieferen — bzw. höheren — Ebene und hilft unserem inneren Wesen, die Veränderung, die Verwandlung zu integrieren. Rituale helfen uns, die Bedeutung besonderer Situationen hervorzuheben und ihnen Raum und Würde zu geben.

In allen Kulturen gibt es eigene Rituale — rites depassage — für alle großen Übergänge von einer Lebens- oder Daseinsstufe zur anderen. Sie sollen diese erleichtern und gelingen lassen. Denn Altes loszulassen ist oft nicht leicht, und Neues, Unbekanntes erhöht zunächst die Spannung in uns. Da ist etwas Hilfe schon angebracht. Teil aller fruchtbaren Übergangsrituale ist es, Gewesenes anzuschauen, zu erkennen, was es einem gebracht hat, es zu verabschieden und es loszulassen, um Raum zu schaffen für Neues. Gute Rituale stützen sich auf verlässliche, vertraute Muster, lassen aber Raum für Spontaneität und Individualität.

In unserer Situation fallen zwei der wesentlichsten Übergänge im Leben der Menschen — Geburt und Tod — zusammen. Dies fordert ungeheuerlich viel von uns als Einzelnen oder als Paar, und da ist es sehr verständlich, dass häufig ein starkes Bedürfnis nach einem Ritual besteht, durch das wir ein Eingebundensein in der Gemeinschaft unserer Familie, Freunde und Mitmenschen erfahren können.

Vielen trauernden Eltern, mit denen ich gesprochen habe, war es ein ungemein wichtiges Anliegen, dass andere die Existenz ihres verstorbenen Kindes wahrnahmen und anerkannten. Gerade wenn unser Kind nicht auf dieser Erde gelebt und es sonst niemand gekannt hat, kann eine Beerdigung anderen bekunden: Wir hatten ein Kind, und dieses Kind lebt nun nicht mehr. »Die nicht beerdigten oder durch eine Handlung verabschiedeten Kinder lassen Mütter und Väter oft nicht bzw. nur mühsam zur Ruhe kommen und erschweren ihnen die Trauerarbeit«, stellt die Seelsorgerin Dorothea Bobzin fest.

Manchmal werden tote Babys beerdigt, bevor die Mutter das Krankenhaus verlassen konnte. Doch alles Gesagte zeigt, dass es gut ist, wenn beide Eltern zugegen sind. Bei dem Ritual der Beerdigung geben wir den Körper des Kindes der Erde zurück. Dieser äußerst schmerzhafte Schritt hilft uns, die Endgültigkeit und Realität seines Todes wirklich zu begreifen —als erste Aufgabe auf dem Weg zum Heilen. Was dieses gestorbene Kind uns bedeutet, was es uns gebracht hat, können wir erst im Lauf der Zeit ermessen.

Rituale sind Menschen also Lebenshilfe. Es ist gut, sie am Leben zu erhalten. Wo Rituale leer geworden sind, müssen wir sie vielleicht mit neuem Sinn füllen oder uns durch das Schaffen eigener Rituale den Umgang mit diesem Tod erleichtern. Je mehr ein Ritual für uns stimmig ist und uns in der Tiefe entspricht und anspricht, desto mehr wird es uns auf unserem Weg hilfreich sein.