Wenn ein Mensch gestorben ist – wie gehen wir mit dem Toten um? (Rituale)

TauschBickelnDaniela Tausch-Flammer, Lis Bickel S. 181 ff.

In der gegenwärtigen Zeit haben aber viele Menschen den Zugang und das Verständnis für die traditionell gepflegten Rituale und kultischen Handlungen im Rahmen der Kirche verloren. Die Traditionen und die mit ihnen verbundene Geborgenheit haben sich vielerorts besonders in großstädtisch Bevölkerungskreisen immer mehr aufgelöst. Damit ist Entfremdung zwischen uns und den kultischen Handlungen eingetreten und das damit verbundene Gefühl des Befremdlichen ihnen gegenüber.

Andererseits können wir aber auch festzustellen, daß es in vielen Menschen ein neu erwachte Sehnsucht nach ebendiesen und erfüllten Ritualen gibt.

Das bedeutet: daß es einerseits zu einer Erneuerung des Verständnisses von Ritualen und andererseits ein erneuertes Bewußtsein von seiten deren geben sollte, die kultische und rituelle Handlungen vollziehen.

Wir erleben oft, daß gerade in solchen Zeiten tiefer Erschütterung, wie sie Sterben und Tod mit sich bringen, die Sensibilität für Echtheit und Tiefe und die Aufnahmefähigkeit für die heilende“ Wirkung solcher Handlungen besonders gesteigert ist. Das heißt also, daß rituelle Handlungen auch in der Zukunft hilfreich, sinnstiftend und ordnend sein und damit Kraft und wirklichen Trost spenden können, wenn sie erfüllt und wahrhaft mitvollzogen werden. Wir meinen, daß Trauer und wirkliche Verzweiflung nicht durch Zeremonien und Traditionen zugedeckt und verdrängt werden sollten, daß durch sie nicht eine Verpflichtung entstehen sollte, ,,tapfer zu sein“ oder ,,getröstet“ wo dieses noch gar nicht sein kann oder sogar Drohungen von Strafe, Verdammnis, Schuld und Sünde uns nicht noch zu unserer ohnehin schon schweren Last des Verlustes auferlegt werden. Glauben darf nicht gleichgesetzt werden mit einer unechten Haltung, die meint, daß der Schmerz ja gar nicht so groß sein dürfe. Vielmehr wünschen wir, daß es uns wieder vermehrt gelingt, religiöses Handeln und Erleben so zu gestalten und zu erfahren, daß wir in ihnen eine ganzheitliche Ordnung und Geborgenheit empfinden und erfahren können. Eine Ordnung, in der wir uns trotz unserem Schmerz, unserer Wut, unserer Trauer und der Vielfalt unserer Gefühle aufgehoben erleben. Wir wünschen uns eine zukünftige Gestaltung der Bräuche und Rituale, die aus echtem Empfinden kommt und vollzogen wird und uns behutsam zu Vorstellungen des nachtodlichen Seins hinführt und uns Handlungen zeigt, die uns in die geistig-seelische Nähe der Verstorbenen bringen können.

Der ursprüngliche Sinn ritueller Handlungen war der, daß Menschen durch solches Tun ihren Hoffnungen, Wünschen, Angsten, Gefühlen und Gedanken Ausdruck geben konnten, sie verdichteten, ihnen Form gaben und sie erhöhten. Profanes und Alltägliches wurde in einem erhöhten, besonders klaren und liebenden Bewußtsein vollzogen. Sie wurden in einer ganz und gar aufmerksamen und zugewandten Art und Weise ausgeführt, das heißt zelebriert. Die so ausgeführten Handlungen verändern sich in ihrem Charakter und werden zu kultischen Handlungen. Dadurch, daß Handlungen auf solche Weise vollzogen werden, kann sich das ursprünglich nur chaotische, schmerzhafte Empfinden klaren und ordnen und eine heilende Form des Ausdrucks finden.

Ritus und Kult schenken uns die Verbindung zum Heilenden und Heiligenden in uns und außerhalb von uns.

Viele Menschen mag die Frage bewegen, was denn eigentlich Heilung oder auch Linderung bewirkt. Darüber hinaus beschäftigt uns vielleicht die Frage, welche Bedeutung die Rituale, über uns selbst hinaus, denn tatsächlich auch für den Verstorbenen haben. Was können wir über diese Vorgänge und Kräfte, über die Wirkung solch kultischer Handlungen in heutiger Zeit verbindlich aussagen?

Rituelles und sakramentales Geschehen haben immer eine Dimension, die sich auf den religiösen, kosmischen, übersinnlichen, spirituellen Zusammenhang ausrichtet. Das bedeutet, daß Menschen, denen ihr Eingebettetsem in ein höheres, sinnvolles Ganzes nicht mehr zugänglich ist, eben auch von der inneren Bedeutung kultischer oder ritueller Handlungen entfremdet sind.

Andererseits können wir immer wieder feststellen, daß Menschen, die in das Erleben von Sterben und Tod gestellt sind, oft einen ganz neuen Zugang, eine ganz neue Öffnung zum Religiösen, Spirituellen erleben. Manchmal kann es sogar geschehen, daß Menschen durch solche Handlungen, die in große Liebe und Bewußtheit vollzogen werden, wieder eine Ahnung einer religiösen Dimension erfahren.

So sagte uns eine Mutter, die durch die areligiösen Lebensgewohnheiten der ehemaligen DDR geprägt war, nach einer Feierlichkeit für ihren an Krebs Verstorbenen Sohn:

,Ich spürte plötzlich so etwas Besondeies im Raum, und ich hatte das Gefühl, daß Ralph an all dem, was da geschah, teilnahm und er dadurch bei uns war.“

Im Ritual werden an und für sich unsichtbare Kräfte durch Worte im Gebet, Körperhaltungen, Düfte zum Ausdruck gebracht, oder es wird darum gebeten, daß diese unsichtbaren, geistigen Kräfte zur Entfaltung und Wirkung kommen mögen. Das, was unsichtbar erscheint, kann durch Handlung etwas in die Sichtbarkeit kommen. So kann zum Beispiel das Bitten und das Empfangen durch Gesten lebendig werden, Verehrung kann sich durch eine bestimmte Körperhaltung ausdrücken, Kraft und Segen kann empfangen und gespendet werden, und innerlich Erlebtes, Gefühle, Lasten und Fragen können ausgedrückt oder überantwortet werden.

Im rituellen Geschehen ist oft das Element der Wiederholung enthalten. Wir können dann erleben, daß bewußt Wiederholtes und wiederholt Erlebtes uns ein starkes Gefühl der Ordnung, des Schutzes und der Geborgenheit vermitteln. Andererseits erfahren wir, daß Inhalte, die mit Hingabe wiederholt vollzogen werden, immer neu und verändert erscheinen, daß das eigentlich Wirkende sich auf immer neue Weise in ihm ereignet. Das regelmäßig Wiederholte erfahren wir dann als verwandelnd und heilend.

Der Zugang zu neuen Ritualen

Manchen Menschen entspricht es, daß sie in der Begleitung eines Verstorbenen nicht mehr auf die herkömmlichen Brauchtümer und Traditionen zurückgreifen möchten. Sie wollen entweder neue oder auch persönlichere Formen des Handelns für sich finden. Wir wünschen uns, daß wir durch die folgenden Abschnitte solchen Menschen, die für ihre Verstorbenen und auch für sich selber neue Rituale und zeremonielle Handlungen vollziehen möchten, Mut und einige Anregungen geben können.

Durch diese ,,Zurücknahme“ solchen Handelns in die Kraft der eigenen Gestaltung wird einerseits ein Großteil der Entfremdung gegenüber Ritualen und die Tabuisierung gegenüber Sterben und Tod überwunden, andererseits kann es den Hinterbliebenen ein Gefühl tiefer Befriedigung schenken, das ihnen auch im Prozeß der Trauer hilft.

Auf der Suche nach solchen Formen haben wir eine noch gar nicht ausgeschöpfte Quelle in den Bräuchen und Traditionen anderer Völker und Kulturen. Da gibt es die Sitte:

  • den Toten selber zu richten und zu schmücken;
  • Sarg- oder Grabbeigaben mitzugeben;
  • die Totenwache auf eine gemeinschaftlicher Art und Weise durchzuführen, wie zum Beispiel mit den Mitbewohnern eines ganzen Hauses;
  • die Feierlichkeiten auf unterschiedlichste Weise zu gestalten;
  • das Niedersenken des Sarges selber zu übernehmen;
  • das Grab selber zuzuschaufeln;
  • das Grab gemeinschaftlich zu schmücken;
  • besondere Essenszubereitung;
  • und andere Formen eines längeren Beisammenseins und Begleitens in den Tagen nach der Beisetzung.

Paul Tillich schreibt in seinen Religionsphilosophischen Schriften:

Kultus ist die Inbegriff derjenigen Handlungen, durch die das Unbedingte (das Ewige Göttliche – Transzendente /Anmerkung der Verfasserinnen) im Praktischen realisiert weiden. Alles religiöse Handeln ist kultisches Handeln. Religiöses Handeln aber ist gläubiges Handeln, Alles gläubige Handeln ist darum kultisches Handeln!…

Für den Glauben kann es keinen (!) praktischen Akt geben, der nicht durch ein Symbol hindurch auf das Unbedingte gerichtet wäre…

Der Kultakt ist nichts als die höchst konzentrierter Form gläubigen Handelns“ (Paul Tillich, Hauptwerke Band 4).

Wir möchten das für uns in folgender Weise ausdrücken:

Jede Handlung kann zu einer kultischen Handlung erhoben werden.

Um eine profane Handlung zu einer kultischen Handlung werden zu lassen, bedarf es:

  • der Gerichtetheit auf das  Göttliche,
  • die konzentrierte Hingabe an das Geschehen
  • und die Reinheit der Motive un der Ausführung.

Wenn wir in dieser äußeren und inneren Haltung Handlungen vollziehen, haben sie einen kultisch-rituellen Charakter.

Alle Beteiligten sollten solche Rituale mit wachem und liebenden Herzen vollziehen oder nachvollziehen, dann werden sie selber die Bedeutsamkeit und Kraft eines solchen Tuns erfahren. Das kann für einen einzelnen Menschen gelten oder auch für eine Gruppe von Menschen, die sich in diesem gemeinsamen Anliegen miteinander verbinden. Das ganz persönliche Erleben kann in solch gemeinschaftlichem Tun als eine uns allen gemeinsame Lebenserfahrung erlebt werden, damit kann der eigene subjektive Schmerz als ,,normal“ allen Menschen gemeinsam, eingebettet, erlebt und verstanden werden. Auf diese Weise kann das Leiden ein Stück weit begreifbarer werden.

Alles, was einen Weg des Ausdrucks, eine Form oder Gestaltung findet, erfährt damit schon Wandlung im Sinne von Heilung.

Inwieweit solche rituellen Handlungen unsererseits auch für den Verstorbenen ,,positiv“, das heißt hilfreich und wichtig sind, kann in solchen Situationen ahnend erfahren werden. Wir haben dann vielleicht in unserem eigenen Inneren das Erleben, daß etwas ,,lichter“ oder ,,leichter“ um den Verstorbenen wird, oder wir haben möglicherweise das Gefühl, daß sich etwas Fehlendes zu einem Ganzen schließt, abrundet und vollendet. Wenn wir den Verstorbenen sowohl in seiner Lebensgeschichte als auch in der Tiefe seines Wesens kannten, können wir in solchen Handlungen eine Übereinstimmung mit seinen Wünschen erahnen, oder wir erleben, daß wir in uns das ganz deutliche Gefühl haben, noch etwas in seinem Sinne für ihn vollzogen zu haben.