Hiob, warum läßt Gott zu, daß es mir so schlecht geht?

Aus „Mit Menschen der Bibel Lebenskrisen überwinden
– zum Beispiel Hiob“

Wolfgang Hohensee

DHiober Mensch ist versucht oder besser gesagt, er ist geradezu gezwungen, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid zu finden. Dabei bedient er sich einer Vielzahl möglicher Antworten, die ihm gleichsam als rettender Strohhalm dienen sollen.

Ich kenne ein Elternpaar, das ihr vierjähriges Kind auf tragische Weise durch einen Verkehrsunfall verlor. Eine »fromme Tante« des Kindes versuchte die Eltern mit der Antwort zu trösten, dass Gott die, die er liebt, zu sich holt. Für mich kann das keine Antwort sein, sondern nur der nach Hilfe schreiende Versuch, auf die Sinnlosigkeit dieses Leides dennoch eine Antwort zu geben.

Bei Hiob sind es die so genannten Freunde, die aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommen und versuchen. Antworten zu finden. Für den einen ist es vollkommen klar, dass Hiob Schuld auf sich geladen hat, denn Gott würde niemals einen Gerechten mit Leid überschütten. Der zweite will Hiob davon überzeugen, dass sich am Ende sicherlich alles zum Guten wenden wird. In die gleiche Richtung tendiert der dritte Freund, der das Leid als Geheimnis Gottes deutet, dessen Sinn sich eines Tages enthüllen wird. Auch der später auftretende Elihu loht die Erhabenheit Gottes und wirft Hiob damit indirekt vor, sich selbst zu erheben, denn wer ist der Mensch, dass er mit Gott zürnen oder ihn anklagen dürfe?

Die übereinstimmende Antwort der Freunde lautet, dass Gottes Ordnung nicht anzutasten ist. Gott belohnt die rechtschaffenen Menschen, aber die Bösen werden bestraft. Die Freunde, die Ernst Bloch als »vier Glaubensspießer« betitelt, meinen es zwar gut mit Hiob, aber er ist nicht wirklich durch ihre Worte getröstet. Auch wenn die Antworten der Freunde verschieden sind, so sind es dennoch schlichte Antworten, die vom gleichen Gottesbild geprägt sind. Übereinstimmend vertreten sie die traditionell-religiöse Antwort auf die Frage, warum Gott einen rechtschaffenen Mann wie Hiob so quält: »Gott vergilt dem Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach seinem Tun.» Dahinter steckt der Gedanke, dass Leid immer eine göttliche Strafe für begangene Schuld bedeutet. Wo immer ein Mensch leidet, ist das die Folge menschlicher Schuld. Diesem Erklärungsmuster folgen bis heute viele Menschen, denn immer wieder ist zu hören, dass Menschen im Leid fragen: »Was habe ich denn falsch gemacht?« Doch was für  ein Glaube ist das? Welchen Fehler haben Menschen begangen, die in der Sahel Zone oder in den SIums von Rio de Janeiro tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen? Welche Schuld soll ein Kleinkind auf sich geladen haben, das an einer schweren Krankheit stirbt? Unter echter Anteilnahme von Freunden verstehe ich, einem leidenden Menschen durch Nahebringen und Zuspruch von Gottes Eigenschaften zu rechter Selbsterkenntnis zu helfen, anstatt ihn mit falschen Gottesbildern zu falschen Selbsteinsichten zu führen.

Hiobs Freunde halten an ihrem Gottesbild (mehr zum Begriff Gottesbild) fest und immer wieder muss er seine Unschuld beteuern. Es sind oft die falschen Freunde, die einen Menschen im Leid mit schnellen Erklärungsversuchen zu trösten versuchen. Dies ist aber kein echter Tost, sondern eine Vertröstung. Hiob kann und will die Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit des Leides nicht aushalten. Er merkt dabei nicht, dass er sich nach dem gleichen Muster vom gerechten Zusammenhang von Tun und Ergehen verhält: Wenn Hiob sich unschuldig fühlt, so muss im Umkehrschluss Gott an dem Leid schuld sein. Hiob möchte Gottes Handeln verstehen, aber er kann es nicht. Die Freunde haben keine befriedigende Antwort und deshalb lässt Hiob nicht locker und schleudert Gott selbst seine Fragen an den Kopf:

Bin ich gewandelt in Falschheit, oder ist mein Fuß geeilt
zum Betrug?… Ist mein Gang gewichen vom Wege und
mein Herz meinen Augen nachgefolgt und blieb etwas
hängen an meinen Händen?… Hat sich mein Herz betören
lassen um eines Weibes willen und hab ich an meines
Nächsten Tür gelauert?… Hab ich missachtet das Recht
meines Knechts oder meiner Magd, wenn sie eine Sache
wider mich hatten?
Hiob 31,5.7.9.13

Immer wieder beteuert Hiob seine Unschuld: »An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht; mein Gewissen

Also warum wollte Gott den Tod der Menschen am 11. September? Warum wollte er den Tod der 71 Menschen bei der Kollision zweier Flugzeuge? Warum der Tod eines Kindes? Wenn nach christlicher Schöpfungstheologie Gott in allem wirkt, so muss er doch auch in den Katastrophen wirken, so denken und fragen viele Menschen.

Diese Theodizeefrage, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der grausamen Weltwirklichkeit, führt aber nicht weiter. Sie bleibt unbeantwortet und deshalb ist nach 1945 der Satz gefallen, dass man nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben könne, gerade weil er nicht eingegriffen habe. Gott schweigt und weitere Katastrophen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Brände, Flugzeugabstürze und Morde werden geschehen. Gott wird durch unser Fragen nach dem Warum mit einer falschen Wirklichkeit verbunden. Wenn Gott in einen kausalen Zusammenhang mit all dem Leid gestellt wird, dann können die Antworten nur in die Irre führen. Gott ist weder mächtig noch ohnmächtig, sondern er ist, wie er ist, und was Hiob mitgeteilt wird, setzt den Menschen herab und ordnet ihn neben die unfassbare Natur.

Aber dennoch spricht Gott mit Hiob und damit zu uns Menschen von heute. Gott vertröstet nicht, sondern korrigiert und bleibt in Gemeinschaft mit Hiob. Gott hatte auch andere Fragen an ihn richten können, denn wenn wir im Nachdenken über das Leid von der menschlichen Abwendung von Gott ausgehen, so müssen wir feststellen, dass Gott den Menschen zum Leben und nicht zum Tode geschaffen hat. Der Mensch ist es, der dem Menschen Leid zufügt. «Homo homini lupus«, heißt es in einem lateinischen Sprichwort, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Gemeint ist, dass der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch selbst ist. Dann lautet die Frage nicht mehr, wie Gott das Leid zulassen kann, sondern wie die Geduld Gottes zu rechtfertigen ist, mit der er den friedlosen Menschen noch immer Raum, Zeit und Kraft gibt, ihr Unwesen zu treiben.

Hiob zeigt sich von Gottes Antwort tief beeindruckt. Indem er erfährt, dass Gottes Horizonte größer sind als die der Menschen, legt sich sein Ärger und er bekennt, selbst zu gering zu sein, um auf die Erhabenheit Gottes antworten zu können. Hiob gibt Gott schließlich Recht. Er wendet seinen Blick von sich weg und erlebt Gott in neuer Weise:

Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen;
aber nun hat mein Auge dich gesehen.
Hiob 42,5

Dieses Bekenntnis ist nicht als Niederlage zu verstehen, sondern es ist die überwältigende Erfahrung der Nähe Gottes. Auch wenn die Antwort Gottes nicht der Frage Hiobs entspricht, so ist sie dennoch eine Antwort. Gott hat zu Hiob gesprochen und ist aus seinem Schweigen herausgetreten.

Hiob erkennt die Unverfügbarkeit des menschlichen Daseins an. Sowohl in der Ordnung als auch in der letzten Undurchschaubarkeit ist Gottes Gegenwart zu finden. Hiob lässt sich ganz neu ohne Voraussetzungen und Bedingungen auf Gott ein. Gott ist weder ein Gott der Strafe noch ein Gott des Schutzes, sondern Gott ist ein Gott, der frei ist.

Den weisheitlichen Traditionen entspricht es, dass die Spuren in Gottes Walten in der Schöpfung zu finden sind. An Hiob ist abzulesen, wie Gott in seiner unergründlichen Weisheit handelt, ohne dass der Mensch dieses Handeln erkennen, berechnen oder manipulieren kann. Hiob soil erkennen, dass er auch im Leid auf Gottes Gegenwart und Führung vertrauen darf.

Wie immer hat jeder selbst die Wahl, wofür er sich entscheidet: Leid oder Chance? Das Ziel bleibt dasselbe! Hiob hat sich für die Chance entschieden, indem er alte Gottesbilder über den Haufen warf. Darin ist er für mich zum Mut machenden Vorbild geworden. Ich brauche die Erfahrung, dass es geht, dass es nie ein »Zu Spät« gibt. Krisen – egal wie tief sie uns führen – bergen Veränderungen in sich, die mich dazu führen können, zu wachsen und glücklich zu werden. Der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Franki, sagte: »Es gibt kein menschliches Wesen, das nicht mit Leid, Tod und Schuld konfrontiert wird – einmal als Opfer, einmal als Täter!« Wäre es nicht an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und die Stärke zu wählen, sich nicht vor Krisen zu drücken, sondern Lösungsmöglichkeiten zu suchen? Oie Krise lässt uns die Trostlosigkeit erblicken, aber ich selbst entscheide, ob ich um mich schlage und den Halt verliere oder ob ich mich dem Neuen, das auf mich zukommt, stelle. Ich möchte neue Schritte wagen, bereit sein, auch schmerzliche Veränderungen in Kauf zu nehmen.

An der Hioberzählung erkenne ich, dass der Mensch trotz seines Leids zu einem größeren Ganzen finden kann. Hiob sucht eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid. Nur die Liebe vermag die Sinnlosigkeit von Leid in Frage zu stellen. Hiob findet zu dieser Liebe zurück, indem er die Frage nach dem Leid zu der Frage nach dem Sinn des Lebens verändert. Für Leo Tolstoi, der in eine Lebenskrise geraten war, keimte neue Hoffnung in seiner Verzweiflung auf, als er eines Tages allein durch den Wald ging. Er beschreibt, wie er begonnen habe, über sein Leben und über das nachzudenken, was größer war als sein Leben, aber noch unentdeckt. Das Fehlen dieses größeren Elements war die Quelle seiner Verzweiflung. Inmitten der Natur des Waldes suchte er in sich selbst nach diesem Gefühl für etwas Größeres. Nach dieser Erfahrung schrieb Tolstoi: »Die Dinge in mir und um mich herum wurden klarer denn je, und das Licht ist nie wieder erloschen. Wie es zur Veränderung kam, kann ich nicht sagen. So unfühlbar und allmählich, wie die Lebenskraft in mir erstorben war und ich mein moralisches Sterbebett erreicht hatte, so allmählich und unmerklich kam die Lebensenergie zurück.«

Vielleicht ist diese Erfahrung ähnlich wie bei Hiob, der Gott in ganz neuer Weise erleben durfte. Gott war plötzlich mit den inneren Augen sichtbar. Gott war das Leben selbst, und es war Hiob plötzlich ganz nähe. Immer wieder können wir am Beispiel anderer Menschen ablesen, dass die Krisen zu- gleich die großen Lehrmeister sind, die helfen, uns selbst als Teil des Ganzen zu verstehen, uns selbst in unseren noch so schweren Momenten nicht immer als Mittelpunkt zu sehen. Paul Tillich nennt dies den »Mut, Teil zu sein«, und meint da- mit: sich selbst trotz der vielen erlebten Unterdrückungen, Abwertungen und Vernachlässigungen als wichtigen Teil eines lebenden Organismus zu begreifen, einen Teil, auf den es ankommt.