Die Trauer zulassen

Aus “Ja” zur Trauer, heißt “ja” zum Leben, Hrg. Sönke Kriebel

Die Trauer zulassen

Traurig zu sein, gehört zu unserem menschlichen Leben genauso wie glücklich zu sein. Trauer – das ist eine normale, ja, im besten Sinne des Wortes sogar eine “alltägliche” Lebenserfahrung.

Allerdings: Für jeden einzelnen, von Trauer bewegten Menschen ist diese tiefe seelischen Erschütterung alles andere als alltäglich. Vielmehr wird Trauer als Ausnahme- oder Grenzsituation erfahren; sie gilt als “anormale” in dem Sinne, daß sie den vermeintliche normalen Lebensrhythmus stört. Die Folge dieses Verständnisses von Trauer als einem unnatürlichen Störfaktor ist der Versuch, die mit der Trauer verbundenen ganz unterschiedlichen Gefühle so in den Griff zu bekommen, daß sie das “normale” Leben eben nicht allzu sehr behindert. Doch längst wissen wir, daß wir ein Recht auf Trauer haben: unterdrückte, verdrängte Trauer macht krank – seelisch und körperlich. Und noch mehr: Traue dar nicht nur, sie muß erlebt, durchlitten und meist auch gezeigt werden.

“Trauer zuzulassen”, bedeutet daher auch, einen sehr schweren – aber viel häufiger, als in der Regel wahrgenommen, vorkommenden – Lebensabschnitt positiv zu gestalten; positiv für das Überwinden dieser Phase und für die “ neue Zeit danach”. Was heißt “trauern” in diesem positiven Sinn? Die Trauer ist ein Schmerz, der immer dann empfunden wird, wenn Menschen einen Verlust erleiden: der Tod eines nahestehenden Angehörigen, eines Freundes löst einen solchen Trauerschmerz aus. Grundsätzlich aber tritt Trauer keineswegs ausschließlich im Zusammenhang mit dem Tod auf.

Die heilende Funkton der Trauer wird heute oftmals weitestgehend übersehen. In Gegenteil gilt gerade demjenigen die allgemeine Anerkennung, der sein Traurigkeit verbirgt: So erscheint es erstrebenswert, sich am offenen Grab “tapfer zu halten”, sprich : nicht oder zumindest nicht laut zu weinen oder zuklagen. Auch ein Hinterbliebener, der “gefaßt” auf die Todesnachricht reagiert, erregt Bewunderung. In der Tat kommt Außenstehende eine solch verhaltene Reaktion gelegen: Trauernde, die mit ihren Gefühlen hinter dem viel beschworenen Berg halten – das heißt: die nicht offen weinen, klagen aggressiv und ungerecht sind, die nicht t- manchmal bis zur Erschöpfung des Zuhörers – über den verlorenen Menschen sprechen, Erinnerungen aufwärmen usw. , Trauernde also, die noch im Ausname fall von der Rücksichtnahme auf ihre Mitwelt bestimmt sind, wirken auf ihre Umgebung zunächst angenehm und “unproblematisch”. Doch weder dem Betroffenen selbst noch den Angehörigen, Freunden oder Gekannte hilft diese “Beherrschung” auf Dauer wirklich.

In anderen Kulturen, vor allem früheren Zeiten, wußten die Menschen um die Gefahren verdrängter Trauer ebenso wie um die Heilkraft von Riten, in denen Empfindungen oder Trauer ihren vollen Ausdruck fanden:

Das Kulturgut Trauer: Von ganzen Herzen klagen dürfen

Die Geschichte der Trauer ist so alt wie die Menschheit selbst. Zeugnisse für die Pflege umfangreicher Trauerbräuche sind eindrucksvoll in den Tempeln und Gräbern des Alten Ägypten dargestellt oder etwa in den Schriften altgriechischer Philosophen und Dichter. Die über Jahrtausende gepflegte Tradition der totenklage und die sich seit Jahrhunderten bewährende “Institution” der Klageweiber unterstreicht die Bedeutung durchlebter oder besser gesagt: aus-, “heraus” gelebter Trauer. Allerdings setzt die quasi öffentliche Pflege von Zeremonien wie der Totenklage ein Verhältnis zum Tod voraus, das heute kaum mehr auffindbar ist: ein offenes Annehmen des Todes – als Bestandteil des Lebens nämlich.

Im Gegensatz dazu zählt der Tod heute vielfach zu den gesellschaftlichen Tabus, zu den Themen also, “über die man nicht spricht”.

In unser vermeintlich hoch entwickelten, zivilisierten Kultur prägen die Ablehnung des Todes und das Nichtwahr-haben-Wollen seine letztendlich immer siegenden Übermacht auf die Art und Weis des Trauern. Die medizinischen Mitte, die der Mensch einsetzt, um den Tod auszuweichen, sind immens. So hochentwickelt die Gesellschaft des 20 Jahrhunderts mithin auf anderen Gebieten sein mag. das Kulturgut Trauer ist ihr verlorengegangen. “Von ganzen Herzen klagen zu dürfen” ist daher leider kein allgemein anerkannter Ausdruck von Trauerfähigkeit, aber: “Von ganzem Herzen klagen zu dürfen” ist ein notwendige Voraussetzung für die Bewältigung einer enormen seelischen Erschütterung.