Gezeiten der Trauer – Lernen zu trauern

Artikel aus Ratgeber Frau und Familie vom 27.10 S. 1570,

Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer zu akzeptieren und sie zu durchleben. Angesichts des Todes eines geliebten Menschen fühlen wir uns oft allein und unverstanden. Denn unsere Gesellschaft lehrt auch nicht mehr, mit Trauernden umzugehen. Trauer zu zeigen, ist uns zu Beginn, am Grab und noch eine unbestimmte Zeit danach erlaubt, aber dann sollen wir möglichst bald zur Tagesordnung übergehen. Der Tod eines Menschen, der doch zum Leben gehört wie die Rückseite zu einer Vorderseite, wird von der Medizin mit allen Kräften hinausgezögert und von unserer Umgebung als Thema so weit wie möglich gemieden. Mit dem Kranken schon vorher über seinen Tod zu sprechen, wird uns fast unmöglich gemacht — von ihm selbst oder von unserer Rücksichtnahme auf seine Gefühle. Nach seinem Ableben bleibt den Hinterbliebenen nur die private Stille, in der sie sich mit ihrem Schmerz auseinandersetzen können.

Weinen befreit

Tränen sind nicht nur Ausdruck aufgewühlter Gefühle. Sie können tatsächlich Seele und Körper von belastendem Stress befreien. Das hat eine biologische Grundlage. In der Tränenflüssigkeit sammeln sich Stresshormone (vor allem Proklaktin), die der Körper in solchen Momenten im Übermaß produziert, und die dann mit ihr ausgeschwemmt werden. Das tut dem ganzen Organismus gut und entlastet die Psyche von Druck und Schmerz. Schämen Sie sich also Ihrer Tränen nicht! Halten Sie sie nicht zurück! Sie helfen Ihnen, Ihre Trauer auf gesundem Wege zu durchleben. Das sei auch den Männern gesagt, denen schon in frühester Kindheit das Weinen aberzogen wurde. Frauen weinen im allgemeinen leichter als Männer. Aber das heißt nicht, dass eine Frau um einen Verstorbenen mehr oder tiefer trauert als ihr Mann. Wenn er es sich verbietet, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, zahlt er nur seinen hohen Tribut an unsere gesellschaftliche Vorstellung von Männlichkeit. Aber auch Frauen fällt es heute immer schwerer, Tränen zu vergießen. Doch Kummer, der sich nicht äußern oder ausdrücken lässt, bleibt im Inneren, hat die Tendenz, sich festzusetzen, zerstörerisch nagend, bohrend. Solche inneren Wunden heilen schlecht, vernarben kaum.

Deshalb ist es notwendig, dass Trauernde sich bewusst ihrem Schmerz stellen – auf welche Weise auch immer. Denn unsere Gesellschaft bietet nur noch wenige Stützen. Das Trauer-jahr, früher eine Konvention, war nicht nur Pflicht, sondern auch Hilfe. Schon allein die schwarze Kleidung bot Schutz in der Öffentlichkeit. Heute wird von Trauernden verlangt, dass sie bald wieder “ganz die Alten” sind, “normal” arbeiten und leben. Aber wie lebt es sich nach dem Verlust eines geliebten Menschen normal? Die Antwort fällt für jeden Menschen anders aus. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten von Reaktionen und Verhaltensweisen, die die Sterbensforscherin Elisabeth Kübler-Ross in ihren bekannten Büchern herausgearbeitet hat.