„Von Marlèen für Tobias“.

Schon die ganze Woche hatte ich mich darauf gefreut, daß Heidruns Schwester Regina mit Familie kommt. Auch wenn wir uns vielleicht bis jetzt fünf, sechs Mal nur gesehen hatten, hatte ich jedes Mal das Gefühl, wir kennen uns schon lange. Alle Kinder sind so lieb, von der kleinen Jenny bis Timo, Dana und Marlèen. Es ist schon faszinierend, daß Kinder instinktiv das Richtige machen. Heidrun hatte mir erzählt, daß die Kinder kommen und den Wunsch hatte, zu Tobias auf den Friedhof zu gehen. Sie fragte ganz vorsichtig, ob ich auch mitkommen wolle. Wie mir Regina später erzählte, war sie ganz erstaunt, daß ich den Mut hatte, mitzukommen. Aber es war genau das Richtige.

Wir fuhren alle zusammen in dem Wohnmobil nach Großhansdorf. Jedes Kind hatte eine Kerze dabei, die sie für Tobias anzünden wollten. Marlèen packte während der Fahrt die Kerzen aus und erklärte, daß sie gerne dort hätte aufschreiben wollen:“Von Marlèen für Tobias“. Es war so schön, daß endlich jemand einmal nicht nur wagt, seinen Namen auszusprechen, sondern dies auch als das Normalste der Welt betrachtete. Ja warum ist es das denn nicht!

Als wir am Grab von Tobias ankamen, haben alle ihre Kerze angezündet und jeder hat seinen Platz dafür ausgesucht. Regina umarmte mich dann und sagte:“Mensch Pirko, du tust mir so leid, daß du deinen Tobias verloren hast!“. Ein einfacher Satz, von Herzen ausgesprochen und ich spürte, sie als Mutter erahnte, was ich empfinde. Sie rief dann alle noch einmal zusammen und wir beten gemeinsam das Vaterunser. Dann sprach sie noch ein paar Worte zu meinem kleinen Tobias, und bat Gott mir Kraft zu geben, damit ich nicht mehr so traurig bin.

Mit ihrer Aufforderung, daß wir zum Abschluß gemeinsam das Vaterunser beten könnten, hättest sie mir keinen größeren Wunsch erfüllen können. Auch wenn ich das Gefühl hatte, daß mir in den letzten Wochen so vieles verloren gegangen war, wenigstens mein Glaube an Gott blieb mir erhalten.

Regina und die Kinder gaben mir damit einen der schönsten Augenblicke seit über sieben Wochen. Es tat einfach gut, daß grossh1jemand mich in meiner Trauer ernst nahm.

Sie sprach mich auch gleich an, ob ich denn Fotos von Dir hätte, und, daß sie diese gerne sehen wolle, wenn es für mich okay sei.

Als ich zu Hause Regina dafür dankte, nahm sie meine Hand und sagt, daß sie wenig für mich tun könne, aber jedenfalls dies würde sie gerne tun. Es ist kaum zu erklären, aber es gibt Menschen, die haben ein unheimliches Gespür, auf andere zuzugehen. Regina fragte ohne Hemmungen, aber ganz behutsam, wie denn alles passiert sei. Ich erzählte ihr alles, nicht nur den nüchternen Geschehensablauf, sondern auch meine Ängste, Gefühle und alles was mich seitdem bedrückt. Ich merkte sofort, wie gut mir dies tat und wie viel Kraft mir das Gespräch gab. Es sprang ein Funke über und ich hatte das Gefühl, als wäre sie meine große Schwester.

© Pirko Lehmitz, www.Stillgeboren.de Oktober 1997