Dann auf einmal passiere „es“, ohne dass ich so recht einverstanden war. Die ganze Zeit war ich noch in der Sorge, ob auch alles gut gehen würde. Die ersten Vorsorgeuntersuchungen waren aber völlig unauffällig. Erst gegen Mitte der Schwangerschaft trug der Arzt in meinen Mutterpass unter „Besonderheiten“ eine Abkürzung mit drei Buchstaben ein und umkreiste sie rot. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, dass die Plazenta im vorderen, unteren Becken liege und dies nicht sehr günstig für die Geburt sei. Es bestünde die Gefahr, dass bei Wehen und Öffnen des Muttermundes Blutungen von der Plazenta ausgingen.
Außerdem veränderte sich mein damaliger Ehemann durch diese Schwangerschaft in ein unvorstellbares Scheusal. Wir waren inzwischen in ein neues Haus mit viel Platz und Komfort gezogen. Aber er fing an mich zu verspotten, wie ich aussähe mit meinem dicken Bauch. Es war so erniedrigend. Immer öfters kam er jetzt völlig betrunken nach Hause, weckte mich dann mitten in der Nacht auf und fand immer Gründe mich zu demütigen und zu beleidigen. In meiner Hilflosigkeit setzte ich mich im Badezimmer zwischen Toilette und Badewanne auf den Boden und weinte … weinte … weinte.
Alles das hat meine Tochter Rebecca mit erlebt. Alle diese Worte und Beschimpfungen, alle diese Erniedrigungen, hat sie gehört. Sie hat sich wohl gedacht, dass draußen eine traurige Welt auf sie warten würde.
Der Geburtstermin war für Ende Mai. An Fasching waren wir mit meiner Tochter zusammen auf einem Umzug in dem kleinen Ort. Von den geschmückten Wagen wurden Bonbons geworfen. Ich stand mit meinem damaligen Ehemann und meiner Tochter am Straßenrand, um zuzusehen. Auf einmal traf mich eines oder mehrere Bonbons mit voller Wucht auf meinem schwangeren Bauch. Mir tat das sofort weh und als ich zu dem Wagen hinsah, waren dort einige Jugendliche, die lachten, ich schließe daraus, dass sie absichtlich auf meinen Bauch gezielt hatten.
Ob dies die Ursache für das weitere war, weiß ich bis heute nicht. Ende Februar kam ein Bekannter, um das Babyzimmer zu tapezieren und anschließend wollte ich es einrichten, die Babysachen waschen, mich auf das Baby vorbereiten.
An diesem Abend, als wir mit der Renovierung gerade fertig waren, lag ich im Bett, meine damals 6-jährige Tochter im Kinderzimmer nebenan, der Vater der beiden war wie meistens „unterwegs“. Kurz bevor ich einschlief sah ich auf einmal einen kleinen weißen Kindersarg, aber nicht im Traum, sondern, so als hätte mir jemand dieses Bild „eingespielt“. Ich dachte, was ist das denn? Wachte einen Moment noch mal ganz auf. Aber dann schlief ich wieder ein.
In der Nacht wurde ich auf einmal davon geweckt, dass ich Fruchtwasser verlor. Ich wurde völlig panisch, weil ich dachte, das wäre alles Blut und das Baby würde gleich hinterher rutschen.
Ich rief nach meiner kleinen Tochter, weil ich nicht wagte, aufzustehen. Sie kam dann auch aus ihrem Zimmer, ich sagte, sie solle einfach am Telefon eine Nummer wählen und sagen, dass ihre Mama ein Baby bekommt, blutet und Hilfe bräuchte. Aber das klappte nicht, dann fiel mir zum Glück die Notruf-Nummer ein. Ich versuchte, so gut ich konnte, meine Tochter zu beruhigen, bat sie ganz langsam einzeln die Ziffern 110 zu wählen und sagte ihr den Text nochmals vor, den sie sagen sollte, mit unserem Namen und der Anschrift.
Dann kamen auch ziemlich zeitgleich ein Polizei- und ein Krankenwagen, eine Nachbarin, die sich zum Glück um meine Tochter kümmerte und mein betrunkener Ehemann. Ich kam in das Krankenhaus, wo ich auch schon meine erste Tochter entbunden hatte und wo alle Vorsorge-Untersuchungen stattgefunden hatten. Man stellte dort fest, dass ich einen Riss in der Gebärmutter hätte und schlug mir vor, einen Wehentropf anzuhängen und zu hoffen, dass er sich wieder verschließt. Von diesem Moment an fing ich richtig an, um Rebecca zu kämpfen. Ich dachte, meine erste Tochter sei ein Weihnachtsmädchen und wenn dieses Kind es bis Ostern schaffen würde, dann hätte sie eine gute Chance zu überleben. Ein Kaiserschnitt kam durch meine Vorgeschichte nicht in Frage, also hoffte ich Tag für Tag, dass das Baby wachsen würde und so lange in meinem Bauch bleiben, bis es groß und stark genug wäre für die Welt draußen.
Nach einigen Wochen stellten die Ärzte bei einer Ultraschall-Untersuchung fest, dass das Baby nicht mehr weiter wuchs. Zudem waren bei meinem nächsten EKG die Werte so schlecht, dass mir die Ärzte nahe legten, die Infusionen zu beenden. Ich wollte das auf keinen Fall, aber die Ärzte beharrten auf dieser Entscheidung. Sie versprachen, mir die höchst-mögliche Dosis dieses Medikamentes oral zu verordnen. Aber gleich einen Tag nach dem der Tropf entfernt war, bekam ich Wehen.
Der Oberarzt kam und sagte mir, dass das Baby sehr schlechte Chancen hätte. Ich bettelte um einen Kaiserschnitt, der aber auch abgelehnt wurde. Als mir die Tränen kamen, bekam ich von dem Oberarzt gesagt, ich solle mich nicht so anstellen, ich wäre noch jung und könnte noch viele Kinder bekommen, was denn andere Frauen in meiner Situation sagen würden, wo das nicht mehr möglich wäre.
Ich kam in den Kreissaal, wurde an den Wehenschreiber gehängt und hatte regelmäßige Wehen. Noch immer hatte ich die Hoffnung, dass alles doch noch gut gehen könnte, nicht aufgegeben. Aber dann hörte ich an den Herztönen des Babys, dass sie immer leiser wurden, immer weniger, immer unregelmäßiger. Ich hörte, wie mein Baby in meinem Bauch starb.
Auf mein entsetztes Gesicht hin, stellte die Hebamme den Ton des Gerätes ab. Kurze Zeit später erschien der Oberarzt und versuchte, das Baby zu holen, aber es ging nicht. So bekam ich eine Narkose. Als ich wieder erwachte, war das Baby weg.
Ich habe Rebecca niemals gesehen. Sie war einfach aus meinem Leben verschwunden. Das Personal der Klinik wusste viel besser, was für mich das Richtige wäre, wenn ich anfragte, ob ich meine Tochter nicht einmal sehen könnte, wurde das verneint. Auf meine Frage nach einer Beerdigung, damit ich wenigstens ein Grab für sie hätte, wurde gesagt, das ginge nicht. Das einzige, was ich durchgesetzt habe war, dass sie nicht als „Totgeburt“ eingetragen wurde, sondern als Rebecca. Ihr Vater, der bei der Geburt anwesend war, mich sogar, als ich die Narkose bekam, im Arm hielt und als ich wieder aufwachte, war er so noch immer da, hatte sie gesehen und mir erzählt, dass sie ausgesehen hätte, wie unsere große Tochter. Um die Nabelschnur hätte sie eine Entzündung am Bauch gehabt. Sonst wäre sie sehr hübsch gewesen und hätte ausgesehen, als ob sie schliefe.
Ich lag nun zwischen Wöchnerinnen in der Klinik, die regelmäßig ihre Babys zum Stillen gebracht bekamen. Besucht wurde ich außer von meinem damaligen Ehemann von den Ehefrauen der Kollegen meines Ex-Mannes, von den Töchtern meines ältesten Bruders, die als Jugendliche verlegen um mein Bett standen, von einem Pfarrer, der mir irgend etwas von Hiob erzählte und von meiner Mutter, die obwohl ich sie darum gebeten hatte, nichts von meinem Kummer und meiner Trauer nach außen zu tragen, glücklich war, endlich mal in unserem Ort die Nummer eins zu sein, die direkt vom Ereignis berichten konnte. Sie war wer …
Ein einziger Besuch war mir eine Wohltat, ein befreundeter Psychologe setzte sich neben mich, wir waren alleine in einem Raum, er stellte mir seine Schulter zur Verfügung. Ich lehnte mich daran und weinte. Wir wechselten sonst kein Wort, das war auch nicht nötig.
Das Personal der Klinik so wie die anderen Frauen der Station behandelten mich zum Teil mit Verlegenheit, zum Teil, dass ich das Gefühl bekam, ich sei Schuld, Allen so viele Unannehmlichkeiten gemacht zu haben. Jeden Tag bekam ich wort- und kommentarlos eine Tablette angeboten „zur Beruhigung“, auf meine Frage, wie lange ich diese zu Hause einnehmen solle, bis man davon ausgehen könnte, dass mir das Erlebte nichts mehr ausmachte, bekam ich keine Antwort. Auch meine Entscheidung, diese Mittel nicht einzunehmen wurde einfach nur zur Kenntnis genommen.
Nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus war ich völlig damit überfordert, wie ich mit meiner damals sechsjährigen Tochter umgehen sollte, wie ihr erklären, wo das Baby beblieben ist, wenn man selbst noch voller Schmerz und Trauer ist? Bis zum heutigen Tag ist dies ein Thema, über das meine Tochter und ich kaum reden. Ich vermute, dass sie selbst ein großes Trauma durch all das erlebt hat, aber ich respektiere ihre Entscheidung und denke, dass sie in dem für sie richtigen Moment an diesen Teil ihres Lebens zurück geht. Zum Glück haben wir eine so liebevolle Mutter-Tochter-Beziehung, dass sie sich der Tatsache, dass sie auch hier auf mich bauen kann, sicher bewusst ist.
Das einzige, das sich positiv veränderte, war die Beziehung zu meinem damaligen Mann. Durch diesen Schock wurde er plötzlich richtig häuslich und zuverlässig, sogar mit dem Trinken hörte er auf.
Ungefähr drei Monate nach der Geburt von Rebecca hatte ich aus heiterem Himmel einen sehr schlimmen Migräne-Anfall. Ich leide schon seit vielen Jahren unter Migräne, aber dies war nicht vergleichbar, mit dem was ich kenne. Ich legte mich ganz flach auf mein Bett, meine Tochter wurde von ihrem Vater versorgt, der selbst ganz erschrocken war, wie schlecht es mir auf einmal ging. Trotz dieser heftigen Attacke fiel ich auf einmal in einen Schlaf, als ich davon aufwachte, waren meine Kleidung, mein Bettzeug, alles vollkommen nass-verschwitzt. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich etwas geträumt habe, oder was genau passiert ist, aber ich weiß, dass ich danach aufstand und das Gefühl hatte, jetzt sei der schlimmste Schmerz über Rebeccas Tod überstanden.
Danach traf ich bei einer Nachsorge-Untersuchungen eine ehemalige Freundin wieder. Sie machte mir Mut, baute mich auf und sagte, ich solle so schnell als möglich wieder schwanger werden.
Sie empfahl mir ihren Frauenarzt, zu dem ich nun auch wechselte. Ich verhandelte mit ihm, wie schnell ich wieder schwanger werden könnte. Von den Ängsten vor der Schwangerschaft mit Rebecca vor einer Thrombose keine Spur mehr. Auch in meiner Ehe war auf einmal alles ganz anders. Und so wurde ich fünf Monate später wieder schwanger.
Doch durch diese Schwangerschaft wurde mein Ex-Mann wieder der alte, bzw. noch schlimmer, als vorher. Jetzt wurde er auch körperlich gewalttätig. Ich lebte jeden Abend, wenn er nicht nach Hause kam, und das war meist der Fall, mit der Angst, in welchem Zustand er nachts nach Hause kommen würde. Einmal stieß er mich so heftig an einen Türrahmen, dass mein ganzer Rücken voller blauer Flecken war. Ich erzählte einer Freundin davon, ihr kamen die Tränen und sie überredete mich, damit zu einem Arzt zu gehen, damit er diese Verletzungen sieht. Aber mir wurde gleich gesagt, dass das nicht viel nützt, weil er nur aussagen könnte, welche Verletzungen ich hätte, nicht wie ich dazu kam.
Ich hielt noch etwas über ein halbes Jahr nach der Geburt meines gesunden Sohnes in dieser Ehe aus. Als Höhepunkt hatte er mich nach der Geburt im Krankenhaus mit seiner damaligen Freundin gemeinsam besucht. Zur Geburt wollte ich eigentlich alleine fahren, meine Tochter war zu dieser Zeit bei meiner Schwester untergebracht. Leider kam er noch so rechtzeitig von der Gaststätte nach Hause, dass er mit mir in die Klinik fuhr. Dort führte er sich so katastrophal auf, dass ihm die Ärzte und das Personal androhten, ihn hinaus zu werfen. Ich schämte mich so für ihn und mit ihm.
Als ich aus der Klinik kam, war nichts für mich oder das Baby vorbereitet. Niemand freute sich. Es gab keine Blumen. Nur eine Wohnung, die aufgeräumt werden musste, wo von der ganzen Woche, die ich im Krankenhaus war, das verdreckte Geschirr zu spülen war.
Und das war erst der Anfang. Der Vater meiner Kinder lehnte jeden Kontakt zu seinem eigenen Sohn ab. Er nahm ihn nicht in den Arm, um ihn zu füttern. Er behandelte ihn so, dass ich anfing, nachts mit einem Messer unter dem Sofa im Wohnzimmer zu schlafen und zu hören, in welches Zimmer er nach seiner Rückkehr gehen würde und bereit zu sein, falls nötig, meinen kleinen Sohn vor seinem eigenen Vater zu schützen.
Mir gegenüber wurde er nun nicht mehr gewalttätig, denn ich hatte ihm gesagt, dass ich alles den Kollegen in seiner Firma sagen würde. Er wusste, dass dies keine leere Drohung von mir war.
Als mein Sohn ca. acht Monate alt war, trennte ich mich endlich von ihm.
„Erlaubnis“ dafür hatte ich mir davor von einem Pfarrer geholt, dem ich dies alles geschildert hatte und der mir sagte, ich solle sofort gehen. Nicht morgen – nicht übermorgen – sondern sofort.
Seither habe ich in all den Jahren in der Zeit von Ende Januar bis zu Rebeccas Geburts- bzw. Todestag am 14. März ein seelisches Tief. Egal, was ich auch versucht habe, ich schaffte es nicht, dies zu überwinden. Einmal zum Beispiel hatte ich die Idee, diesen Tag nicht als ihren Todestag zu begehen, sondern die Tatsache zu würdigen, dass dies ja auch ihr Geburtstag ist. Ich lud meine beiden Kinder und meinen Schwiegersohn für abends zum Essen ein. Wir saßen in einem Lokal, wo auch ein Platz für Rebecca frei gehalten wurde. Mein Schwiegersohn stellte mir viele Fragen zu Rebecca, die ich ihm alle gerne beantwortete. Aber da er meine sowie meiner Kinder tiefe Trauer dazu fühlte, war er sehr vorsichtig. Wir waren in einem asiatischen Lokal, meine große Tochter mag dieses Essen so gerne. Es lief eine leise Hintergrundmusik auf Band und auf einmal hörten wir den Titel: „Happy birthday“, uns allen standen die Tränen in den Augen.
Durch eine Talkshow-Sendung im Fernsehen wurde ich eines Tages auf die Internet-Seite der Schmetterlings-Kinder aufmerksam. Dort fand ich zum ersten Mal Menschen, mit denen ich über alles dies offen reden konnte, wo ich mich sofort angenommen und verstanden fühlte. Ich bin all den Menschen dort, die ich nicht einmal persönliche kenne, besonders, denen, die diese Seite eingerichtet haben, unendlich dankbar.
Mir fiel zwar auf, dass die meisten Eintragungen dort von Betroffenen waren, die ihre Kinder vor nicht so langer Zeit verloren haben, wie das bei mir der Fall ist, aber ich dachte nicht wirklich darüber nach. Mein Eindruck war, dass wir alle dasselbe Leid und Schicksal zu tragen haben und jeder das auf seine Art in der für sich richtigen Art und Weise tut.
Mit wurde erst klar, dass ich es noch nicht wirklich geschafft habe, dieses Erlebte wirklich zu verarbeiten, als ich im letzten Sommer durch ein ganz alltägliches Erlebnis, nämlich, dass ein kleines Mädchen aus dem Auto an der Ampel vor mir ausstieg und sich von seiner Mutter verabschiedete, wahrscheinlich um zur Schule zu gehen, eine Panikattacke bekam.
Ich wurde in einer psychosomatischen Klinik behandelt und dort wurde mir durch ein Gespräch mit der Oberärztin klar, dass ich noch weit davon entfernt war, mit all dem Erlebten Frieden zu schließen. In erster Linie war und ist es für mich noch immer furchtbar, dass Rebecca aus meinem Bauch verschwunden war und für mich einfach weg. Ich habe bis heute keine Ahnung, wo sie ist, was mit ihr passiert ist. Wurde sie verbrannt? Wurde eine Obduktion durchgeführt? Ich habe kein Grab, nichts. Erstaunlich ist auch, dass ich, obwohl ich so fest an Wiedergeburt glaube und davon überzeugt bin, dass es zum Beispiel Engel gibt, keine Idee hatte, wo meine Rebecca ist.
In der Klinik schenkte mir eine junge Frau, ohne meine Geschichte zu kennen, einen kleinen wunderschönen Engel. Als ich ihn in der Hand hielt, so friedlich schlafend, da hatte ich zum ersten Mal eine Idee, wo meine Tochter ist und wie sie jetzt aussieht.
Und noch etwas sehr tröstliches für meine Seele habe ich in dieser Klinik von einem katholischen Geistlichen geschenkt bekommen (obwohl ich evangelisch bin), er hat mir gesagt, dass meine Tochter direkt unter meinem Herzen aus der Liebe ihrer Mutter in die liebenden Hände GOTTES gefallen ist. Weil sie nichts anderen kennt, ruft sie von dort: „Mama, komm auch her – hier ist es so schön“.
Mit dem Engel und einigen anderen Dingen, die mir am Herzen liegen habe ich nun innerhalb unserer Wohnung einen Platz für Rebecca eingerichtet. In der Klinik habe ich inzwischen die Befunde angefordert und nachgefragt, was mit ihrem Leichnam passiert ist. Ich habe das Gefühl, ihr dies schuldig zu sein.
Meine beiden lebenden Kinder sind inzwischen erwachsen. Meine Tochter ist verheiratet und hat selbst ein wundervolles Mädchen geboren. Ich hätte nie erwartet, dass zwischen Oma und Enkelin eine solche tiefe Liebe möglich wäre. Eine Freundin hat mir einmal erklärt, in ihrer Heimat Griechenland bedeute Oma Zweimal Mutter. Und das stimmt für mich genau. Ich bin jetzt zweimal Mutter für dieses kleine Menschenkind.
Mein Sohn sucht noch nach seiner Lebensspur. Aber ich bin nicht mehr ganz so voller Sorge um ihn und habe inzwischen mehr Vertrauen und Hoffnung, dass er diese findet.
Ja – und Rebecca. Rebecca habe ich keinen Tag meines Lebens vergessen und werde das auch nie. Durch den Kontakt mit anderen betroffenen Müttern, die ein Schmetterlings-Kind haben, habe ich gelernt, dass ich nie wieder sagen werde: ich habe zwei Kinder. Nein, ich habe drei Kinder, zwei sind einzigartige, erwachsene Menschen geworden und eines ist mein Schmetterlings-Engel Rebecca. Vielleicht finde ich mit ihr eines Tages meinen Seelenfrieden. Was ich nach vielen Jahren gefunden habe ist, dass ich sie genau so lieb haben darf, wie meine beiden lebenden Kinder.
Vor wenigen Wochen fand nun das Gespräch in der Klinik statt, wo ich Rebecca am 14.03.1982 tot geboren habe.
Für dieses Gespräch und für die Hilfe, das Verständnis und Mitgefühl, das ich von Seiten der heutigen Klinik-Leitung und des Oberarztes, der mit mir die damalige Akte durchgesehen und wirklich ALLE meine Fragen ehrlich beantwortet hat, bin ich sehr dankbar und berührt. In diesen Unterlagen befanden sich zwei Ultraschall-Bilder, die beide recht kurz vor der Geburt erstellt worden waren. Diese Bilder habe ich bei mir. Auf einem davon ist fast nichts zu erkennen, es sieht aus, wie ein dunkler Punkt mit Umrissen und diese Umrisse wurden vermessen und mit einer Zahl versehen. Aber auf dem anderen Foto habe ich auf einmal das Gesichtchen meiner Tochter zum ersten Mal gesehen. Mein erster Gedanke war, dass es so aussieht, als hätte sie es „absichtlich in die Kamera gehalten“.
Traurig ist, dass Rebecca mit dem heutigen Stand der Technik und des medizinischen Fortschritts eine Überlebens-Chance von ca. 80 % hätte.
1982 betrug diese Chance nur 20 % und hiervon wieder eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie anschließend behindert gewesen wäre.
Ich weiß jetzt um die Hintergründe, die den damaligen Blasensprung ausgelöst haben und denke, dass es ein Fehler war, meine Tochter nach dem Blasensprung so lange zu halten, dadurch ist es zur Entzündung der Plazenta gekommen und letzt-endlich zu ihrem Tod. Auch die Tatsache, dass ich (obwohl ich darum gebeten hatte), keinen Not-Kaiserschnitt erhielt, ist nach meiner Meinung eine traurige Falsch-Behandlung der damaligen Ärzte. Sie haben meiner Tochter noch nicht einmal die kleine Chance von 10 %, dass sie eben doch diesen Start gesund hätte überstehen können, gegeben.
Und warum ich für die Geburt selbst (auch wenn sie mit Saugglocke ausgeführt wurde) eine Vollnarkose erhielt und dies für mich zur Folge hatte, dass ich anschließend aufgewacht bin – und mein Kind war einfach weg … auch dafür gibt es keine heute nachvollziehbare Erklärung.
Gestern habe ich in einem sehr freundlichen Brief von Seiten des Krankenhauses erfahren, dass sie mir selbst bei der Ermittlung des Grabes erfolgreich geholfen haben, in dem meine kleine Tochter anonym beerdigt wurde. Ohne diese Hilfe wäre mir das nicht möglich gewesen, denn in dem zuständigen Beerdigungsinstitut konnte man mir nicht weiter helfen, dort existieren keine Aufzeichnungen mehr über diesen Zeitraum und der damalige Chef ist inzwischen verstorben. Auch für diese rasche Mühe und Hilfe danke ich der Klinik-Leitung und dem zuständigen Oberarzt sehr.
Ich glaube, dass ich JETZT für mich an einem sehr wichtigen Ziel angekommen bin: Meine Tochter Rebecca ist nun Teil meines Lebens geworden, sie hat ihren Platz, der ihr durch die damaligen Umstände nicht eingeräumt wurde, erhalten. Und ich kann endlich auch an ihrem Grab für sie beten, mit ihr reden und ihr auch dort hin Blumen bringen.
Durch all dies habe ich zum einen noch einmal ein wirkliches Meer von Tränen gefühlt aber auch diese Hoffnung: NUN IST ES GUT. (weiter Grab)
Ulrike
www.beepworld.de/members69/ulrikeyannah/rebecca.htm