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Hinter dem Vorhang

Zwischenhaltgottesdienst
der St.Paulus Gemeinde Buchholz i.d.N.
vom 16. November 2008

Zwischenhalt0811Gestern war der besondere Gottesdienst zum Thema „Hinter dem Vorhang“, in dem ich interviewt werden sollte. Am Nachmittag war ich dann doch schon recht aufgeregt, auch wenn die Fragen vorher in einem sehr netten Gespräch mit dem Pastor abgesprochen waren. Aber es ist lange her, dass ich so öffentlich Tobias Geschichte erzählte habe und über meine Trauer berichtete.

Ich war etwas früher da und Michael und die anderen aus dem Team begrüßten mich ganz herzlich. Der Gottesdienst begann wie immer mit einem Lied der Band.

Gestern: „Über den Horizont“ von Udo Lindenberg mit der Zeile

Hinterm Horizont geht´s weiter
ein neuer Tag
hinterm Horizont ,immer weiter
zusammen sind wir stark

Dann gab es eine Begrüßung und Einführung ins Thema.

Und das erste gemeinsame Lied wurde gesungen: „Meine Zeit steht in Deinen Händen

Die Zwischenhaltband

Meine Zeit steht in deinen Händen.
Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.
Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden.
Gibt mir ein festes Herz, mach es fest in dir.

Sorgen quälen und werden mir zu groß.
Mutlos frag ich: Was wird morgen sein?
Doch du liebst mich, du lässt mich nicht los.
Vater, du wirst bei mir sein.

Hast und Eile, Zeitnot und Betrieb
nehmen mich gefangen, jagen mich.
Herr, ich rufe: Komm und mach mich frei!
Führe du mich Schritt für Schritt.

Es gibt Tage, die bleiben ohne Sinn.
Hilflos seh ich, wie die Zeit verrinnt.
Stunden, Tage, Jahre gehen hin,
und ich frag, wo sie geblieben sind.

Meine Zeit steht in deinen Händen.
Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.
Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden.
Gibt mir ein festes Herz, mach es fest in dir.

Danach war ich dann schon dran. Interviewt hat mich mein Lieblingspastor Michael Wabbel. Wir standen vorne zusammen an so einem Bistrotisch. Ich versuche jetzt mal das Interview so aus meinem Gedächtnis widerzugeben:

Michael: Vielen Dank Pirko, dass heute Abend hier her gekommen bist. Bitte erzählen, was vor 11 Jahren Euch geschehen ist.

Pirko: Vor 11 Jahren war ich 30, hatte zwei Jahre zuvor mein Studium und Ausbildung beendet und wir beschlossen, dass es schön wäre, wenn wir jetzt ein Kind bekämen. Ich wurde auch sofort schwanger und war so überglücklich. Ende der 23 Schwangerschaftswoche bekam ich dann allerdings einen Infekt mit Streptokokken, wie sich später herausstellte. Dieser führte zu Vorzeitigen Wehen. Ich bin dann noch vom Mariahilf ganz spektakulär mit Blaulicht ins Krankenhaus Altona gebracht worden. Sie hofften noch, sie würden die Wehen zum Stillstand bekommen, leider nicht. Es kam zur Geburt und unter der Geburt starb mein Sohn Tobias. Er wurde also still geboren. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich hätte nie gedacht, dass mich etwas mal so umhauen würde, mir so den Boden unter den Füssen entziehen. Ich habe wochenlang nur geweint. Ich bin mit Tränen morgens aufgewacht und abends ins Bett gegangen.

Michael: Was hat dich nach all dem Geschehen bewogen, an die Öffentlichkeit zu gehen?

Pirko: Tod ist ein Tabuthema, aber ein noch größeres Tabu ist der Tod von Kindern, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. Diesen Eltern wird oft nicht erlaubt von ihren Kinder zu sprechen. Es fällt den anderen schwer die Trauer zu verstehen, denn sie haben das Kind ja nicht gekannt. Es erwartet, dass sie schnell darüber hinwegkommen. Damals wurde von mir erwartet, dass ich das einfach wegstecke und funktioniere, ich müsse einfach wieder schwanger werden und dann sei alles in Ordnung.

Michael: Du bist sehr engagiert… Wie äußert sich heute dein Engagement?

Pirko: Relativ kurz nach den Tod von Tobias habe ich mich bei den Verwaisten Eltern engagiert, deren Website aufgebaut, für Interviews zur Verfügung gestanden, also Öffentlichkeitsarbeit gemacht,  und im Vorstand mitgearbeitet. Das mache ich heute nicht mehr. Aber ich berate betroffene Eltern in rechtlicher Hinsicht zu Themen wie Mutterschutz und Namensrecht, weil es da immer wieder Schwierigkeiten gibt und  ich begleite betroffene Mütter – meistens per Mailkontakt oder auch in einem Forum für Betroffene. Eine ganze Zeit, bis zur Geburt meines jüngsten Sohnes habe ich einmal die Woche mit betroffenen Müttern gechattet.

Es kommt auch vor, dass ich betroffene Mütter persönlich – per Telefon oder auch in direkten Gesprächen begleite. Eins hat mich besonders berührt: Vor zwei Jahren habe ich eine Mutter begleitet, deren Sohn die Diagnose bekam, maximal zwei Jahre alt zu werden. Er ist dann vier Monate später mit neun Monaten gestorben. Sie habe ich vor und nach dem Tod ihres Sohnes begleitet und zu ihr habe ich heute noch Kontakt, denn sie ist wieder schwanger.

Michael: Was hat damals geholfen, das Geschehene zu bewältigen?

Pirko: Das wichtigste war eine Selbsthilfegruppe der Verwaisten Eltern und ein Trauerseminar, das ich zusammen mit meinem Mann besucht habe. Dort hatte ich erstmals die Möglichkeit, mich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Ich habe dort erfahren, dass andere genauso wie ich trauern. Das es ein ganz normaler Trauerverlauf war, was mein Umfeld mir deutlich anders zu verstehen gab. Ich erfuhr, dass ich über mein totes Baby ganz genauso trauern darf, wie andere Eltern über jedes andere Kind. Das tat mir unglaublich gut.

Gerade die erste Zeit hat es mir auch gut getan zu schreiben. All meine Gefühle, meinen Schmerz und meine ganze Trauer aufzuschreiben. Erst habe ich nur Texte geschrieben und später dann auch Gedichte. Gerade wenn es mir schlecht ging, war das  ein unglaubliches Ventil für mich.

Michael: Pirko Lehmitz hat übrigens eine sehr beeindruckende Website gemacht, auf der man vielen dieser Texte auch lesen kann. Sie ist leicht zu merken stillgeboren.de. Es lohnt sich, da mal raufzuschauen.  Du hast auch Texte und Gedichte verfasst und Dich bereit erklärt uns heute auch ein Gedicht vorzulesen.

Pirko: Ich habe etwas überlegt, welche meiner Gedichte ich vorlesen könnte – ich habe so viele geschrieben –  und dann habe ich mich entschieden, ich werde zwei lesen. Eines, was relativ kurz nach dem Tod von Tobias entstanden ist und ein zweites, das ich zwei Jahre später geschrieben habe

Plötzlich wurde es Nacht
mitten an einem schönen Sommertag
das Licht erlosch
Dunkelheit und Kälte
wo eben noch Glück und Leben
in mir
um mich herum
nur Lähmung und Schweigen
ohne Dich wage ich keinen Schritt
um nicht noch tiefer
in der Dunkelheit zu versinken
bitte führe mich aus der Finsternis
zurück ins Leben
zeige mir den Weg
damit die Sonne wieder aufgeht
ich wieder wage zu leben
ganz neu
 

Tränen des Herzens
sie waschen es aus
machen es rein
für die Gefühle
die wir aufheben wollen
die uns wärmen
die uns Licht geben
rein und klar

Herausgespült wird
die Wut
die Schuld
und die Angst

die Tränen schaffen Platz
für die Dankbarkeit
für die Erinnerung
und für die Liebe
Liebe in unseren Herzen

Michael: Vielen Dank Pirko.

Pirko: Darf ich noch etwas in diesem Zusammenhang ankündigen?

Michael: Ja, gerne.

Pirko: Am 14 Dezember ist der Weltgedenktag für verstorbene Kinder. An jedem zweiten Sonntag im Dezember. Dieser Tag wird auf der ganzen Welt begangen. Um 19 Uhr zündeten die Eltern für ihre verstorbenen Kinder eine Kerze an und stellen sie ins Fenster. Wenn die Lichter in der einen Zeitzone erlöschen, werden sie in der nächsten entzündet, so dass eine Lichterwelle rund um die Welt geht. Auch ich werde das am 14. Dezember mit meinen Jungs machen.

Ich erhielt Applaus und setzte mich.

Michael kündigte das nächste Lied an – ich wusste es schon und hatte im Vorgespräch vorsichtig gefragt, ob es nach dem Interviews käme: Tears in Heaven.

Das nächste Lied ist von Eric Clapton, dessen fünfjähriger Sohn auf sehr tragische Weise ums Leben gekommen ist. Er fiel aus dem Fenster des 35 Stockes eines Hauses in Manhattan. Er hat seine Trauer in diesem Lied verarbeitet. Er stellte sich vor, wenn er ihn im Himmel wiedersehe. Eine Zeile heißt:

Ich muss stark sein und weitermachen.
Denn ich weiß,
ich gehöre (noch)  nicht in den Himmel
Jenseits der Türe, da ist Frieden,
und ich weiß ganz sicher,
dass es im Himmel keine Tränen gibt

Dann spielte die Band Tears in Heaven. Total schön.

Dann gab es die „Mitmachaktion“…in dem Gottesdienst wird immer etwas vorne aufgebaut und man muss dann nach vorne gehen und kann sich dort was abholen. Wir hatten am Eingang eine kleine Träne mit Anhänger bekommen. Die sollten wir nach vorne bringen. Im Taufständer war eine Glasschüssel, die wurde von unten beleuchtet.

In der dunklen Kirche leuchtet die total schön. Da sollten wir unsere Träne hineintun und uns in mehreren großen Kreisen da herum stellen. Obwohl die Kirche voll war, war es ganz ruhig dabei. Als alle Tränen gesammelt waren, erklang ein Ton von einer Klangschale. Reimer sprach denn die Worte: „Und Gott wird alle Tränen abwischen“. Wieder erklang die Klangschale. Dies wiederholte sich dreimal. dann wurden wir

Altar
Der von hinten beleuchtet Altar mit der Schüssel voller Tränen

aufgefordert, uns eine Träne aus der Schale zu holen und die Träne eines anderen mitzunehmen.

 

Tranen
Tränen in der Schüssel

Ich hoffe, es werden wieder Bilder ins Internet gestellt. Das sah total schön aus. Normalerweise wird in diesen Gottesdiensten fotografiert, auch die Interviews, doch diesmal nicht, weil sie aufgrund des Themas das nicht angebracht fanden. Aber die Tränen sind im Anschluss fotografiert worden.

© Pirko Lehmitz, www.Stillgeboren.de November 2008

Sternstunden

Zwischenhaltgottesdienst
der St.Paulus Gemeinde Buchholz i.d.N.
vom 16. Dezember 2007

Meine persönliche Sternstunde

Heute Abend war ich mal wieder zu einem der besonderen Abendgottesdienste in unserer Gemeinde – ich hatte glaube ich schon mal hier davon berichtet. Es spielt dort immer eine Band, es gibt Interviews und eine besondere Aktion. Eigentlich hatte ich ja gar keine Zeit…Elias wird morgen 4 Jahre alt: Geschenke muss ich noch einpacken, zwei Kuchen für den Kiga backen, eine Torte für morgen zum Kindergeburtstag, den Geburtstagskerzenzug aufbauen und die Spiele für morgen noch raussuchen…Kai erinnert mich: „ Du wolltest noch zur Kirche, oder?“. Ja, genau, da wollte ich hin, auch wenn ich wenig Zeit habe, aber das brauche ich heute Abend. Dieses Mal stecke ich nicht zurück. Ziehe mich an, setze mich auf mein Fahrrad und fahre zur Kirche…

Das Thema der Predigt war „Sternstunden“. Der Pastor fragte:“Haben auch sie eine persönliche Sternstunde in ihrem Leben gehabt, einen Augenblick in dem sie ganz eins mit sich selbst waren?“. Er erzählte weiter und meine Gedanke schweiften ab. In mir kamen sofort die Bilder nach der stillen Geburt von Tobias hoch. Ja, da war ich total eins mit mir. Ich hatte ihn im Arm und bewunderte ihn. So einen hübschen, perfekten kleinen Jungen. Das ist mein Sohn, so was wunderbares. Ich traute ihn kaum anzufassen, so berührt war ich. Der war die ganze Zeit in meinen Bauch, hat mich getreten und seine Turnübungen gemacht. Ich hatte mich auf der Stelle in ihn verliebt. Ich weiß heute nicht mehr wie lange ich ihn im Arm gehabt hatte, ich hatte alles um mich herum vergessen nichts wahrgenommen. Ja, Kai muss neben mir gesessen haben, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr. Ich erinnre mich nur an Tobias und mich. „Einen Augenblick, in dem ihr Herz ganz zärtlich berührt wurde…“ höre ich wieder den Pastor. Ja, genau, Tobias hat ganz zärtlichmein Herz berührt, genauso war es…Ich schweife wieder ab, bis ich ihn zum Schluss höre:“Für die letzte Adventswoche wünsche ich ihnen eine solche Sternstunde..“. Nein, ich schüttel heftig den Kopf, nein, noch so eine Sternstunde möchte ich nicht, darauf würde ich lieber verzichten. Ich bin wieder ganz da und denke nur, hoffentlich hat mich niemand beobachtet…und lächle.

Am Ausgang schüttel ich seine Hand und sage mit einem breitem Lachen:“Tschüss Michael, eine schöne dritte Adventswoche wünsche ich Dir..:“ und fahre ganz beschwingt nach Hause.

Bis auf die Torte, die noch im Ofen ist, habe ich alles geschafft…

© Pirko Lehmitz, www.Stillgeboren.de Dezember 2007

DurchKREUTZEWege

Zwischenhaltgottesdienst
der St.Paulus Gemeinde Buchholz i.d.N.
vom März 2008

ZwischenhaltdwegeAm Sonntag war ich mal wieder in einer unsere Abendgottesdienste. Von einigen habe ich schon einmal berichtet. Sie sind immer etwas ganz besonderes. Er steht immer unter einem Thema,dieses Mal „DurchKREUTZEWege“. Es spielt eine Band, es werden Interviews geführt, man muss etwas machen und es gibt neben der Predigt auch immer eine Geschichte zum Nachdenken. Dieser Gottesdienst löst ganz oft, viele Gedanken in mir aus und deshalb möchte ich Euch heute davon erzählen:

Es wurde die folgende Geschichte erzählt:

„Meine Last ist zu schwer

Ein Mann war mit seinem Los unzufrieden und fand seine Lebenslast zu schwer.

Er ging zu Gott und beklagte sich darüber, dass sein Kreuz nicht zu bewältigen sei

Gott schenkte ihm einen Traum:

Der Mann kam in einen Raum, wo verschiedene Kreuze herumlagen. Eine Stimme befahl ihm, er möchte sich das Kreuz aussuchen, das seiner Meinung nach für ihn passend und erträglich wäre.

Der Mann ging suchend und prüfend umher. Er versuchte ein Kreuz nach dem anderen. Einige waren zu schwer, andere zu kantig und unbequem, ein goldenes leuchtete zwar, war aber untragbar. Er hob dieses und probierte jenes Kreuz. Keines wollte ihm passen.

Schließlich untersuchte er noch einmal alle Kreuze und fand eines, das ihm passend und von allen das erträglichste schien. Er nahm es und ging damit zu Gott. Da erkannte er, dass es genau sein Lebenskreuz war, das er bisher so unzufrieden abgelehnt hatte. –

Als er wieder erwacht war, nahm er dankbar seine Lebenslast auf sich und klagte nie mehr darüber, dass sein Kreuz zu schwer für ihn sei. „

Als die Band danach spielte, kam mir sofort die Erinnerung hoch. Nach Tobias Tod habe ich oft gedacht,warum muss ich das ertragen bzw. das kann ich nicht länger ertragen, das stehe ich nicht durch. Es gab auch immer wieder Punkte, da wollte ich auch einfach nicht mehr. Drei Jahre später als ich im Vorstand der Verwaisten Eltern saß und wir uns zum besseren kennen lernen, erzählten was uns verband, da dachte ich nur: Nein, ich möchte mit niemanden hier tauschen:

Die Mutter, deren vier Monate alter Säugling an einer Lungenentzündung starb, weil ihre Mutter, die Oma, trotz Hinweises nicht ins Krankenhaus gefahren war. Hätte ich das jemals meiner Mutter verzeihen können? Hätte ich überhaupt je wieder mit ihr gesprochen? Aber genau das „Nicht-verzeihen-können“ hätte mich auf der anderen Seite selber aufgefressen.

Oder hätte ich mit meinen Schuldgefühlen weiterleben können, wenn mein vier jährigen Sohn an einem Badesee mit dem ich dort war, ertrunken wäre? Nein, ich glaube, das hätte ich nie geschafft.

Oder wie muss sich eine Mutter fühlen, deren fast erwachsener Sohn sich selber tötet? Als Mutter feststellen zu müssen, ihm nicht helfen, keine Geborgenheit geben zu können. Für mich fast das Grauenhafteste, was eine Mutter ertragen muss.

Keines der anderen Schicksale hätte ich ertragen können, mit niemanden hätte ich tauschen mögen…doch mit meinem hatte ich mich inzwischen arrangiert.

Diese Gedanken gingen mir wieder durch den Kopf und ich war froh, dass ich nur dieses Kreuz zu tragen hatte.

© Pirko Lehmitz, www.Stillgeboren.de März 2008

Ein Brief an ein Kind mit Krebs

 Elisabeth Kübler-Ross

Dies ist eine Geschichte über das Leben, über Windstürme und über Samen, die wir im Frühling in die Erde legen, über Blumen im Sommer und Früchte im Herbst. Dies ist aber auch eine Geschichte über den Tod. Er kann ganz früh im Leben kommen aber auch sehr spät zu manchen Menschen

Um was geht es im Grunde? Stell dir vor wie das Leben angefangen hat, ganz am Anfang wie Gott alles schuf- die Sonne die über der Welt scheint, uns wärmt, die Blumen wachsen lässt, deren  strahlen die Erde berühren, auch wenn Wolken sie verdecken. Gott sieht uns immer. Seine Liebe leuchtet stets über uns, gleichgültig wie klein oder wie groß wir sind. Nichts kann die Strahlen von Gottes Liebe aufhalten.

Wenn Menschen geboren werden, beginnen sie wie winzige Samen. Die Samen des Löwenzahns bläst der Wind auf die Wiese – ein paar landen am Straßenrand, einige auf keinen grünen Rasen – wo sie unerwünscht sind; andere in einem Blumenbeet und so ist es auch mit uns. Wir beginnen unser Dasein in einer reichen oder armen Familie, in einem Waisenhaus, vielleicht auch hungrig, vielleicht auch sterbend als kleine Sünder. Es kann aber geschehen, daß uns Eltern lieben, die uns sehr sehnlich wünschen, die uns vielleicht adoptieren und uns selber aussuchen. Manche Leute nennen dies vielleicht das Glücksspiel des Lebens, doch denke daran: Gott trägt auch die Verantwortung für den Wind. Um die Samen des Löwenzahns kümmert er sich ebenso wie um alles Leben überhaupt, vor allem um die Kinder! Es gibt keinen Zufall im Leben. Gott macht keinen Unterschied zwischen den Menschen. Wir sind alle seine Kinder. Seine Liebe kennt keine Bedingungen! Er versteht alles, verurteilt nie – es ist bedingungslose Liebe.

Du und Gott, ihr habt zusammen deine Eltern ausgesucht aus einer Billion Menschen. Du wähltest sie, um ihnen zu helfen, beim Wachsen und Lernen und sie sind auch deine Lehrer. Unser Leben ist eine Schule, in der wir manches lernen können, mit anderen Menschen auszukommen ihre Gefühle zu verstehen, aufrichtig zu sein mit uns und anderen, Liebe zu geben und zu empfangen. Wenn wir unsere Prüfungen bestanden haben, dann dürfen wir die Schule abschließen. Das bedeutet: Wir dürfen heimkehren in unser wirkliches Zuhause – zu Gott, von dem wir kamen. Dort treffen wir alle Menschen wieder, die wir je geliebt haben. Es ist wie eine Familienzusammenkunft nach einem Examen. Das ist der Augenblick des Sterbens, wenn wir den Körper ablegen, genauso wie wir etwas anderes tun dürfen wenn wir unsere Hausarbeiten gemacht haben. Im Winter kannst du kein Leben in einem Baum sehen, aber im Frühling kommen kleine grüne Blätter heraus eins nach dem anderen. Im Spätsommer ist der Baum voller Früchte, er hat sein Versprechen gehalten. Im Herbst fallen die Blätter ab, eines nach dem anderen. Für den Baum ist das die Vorbereitung für die Winterruhe. Einige Blumen blühen nur wenige Tage – jedermann bewundert sie als Zeichen des Frühlings und der Hoffnung. Und dann sterben sie – aber sie haben getan was sie tun mußten. Andere Blumen blühen lange – viele betrachten ihr dasein als selbstverständlich und beachten sie kaum mehr. So verhalten sich viele mit alten Menschen. Sie sehen sie im Park sitzen bis sie eines Tages für immer gegangen sind.

Alles im Leben ist ein Kreislauf: Der Tag folgt auf die Nacht – der Frühling auf den Winter; verschwindet das Boot hinter dem Horizont, so ist es nicht einfach weg – aber wir sehen es nicht mehr wie wir die Sonne nicht mehr sehen während der Nacht. Gott wacht über alles, was er geschaffen hat: Erde, Sonne, Bäume, Blumen und Menschen die durch die Schule des Lebens gehen müssen, bevor ihre Lehre abgeschlossen werden kann. Erst wenn alle Arbeit getan ist, wofür wir auf die Erde kamen, dürfen wir unseren Körper ablegen. Er umschließt die Seele, wie die Puppe den künftigen schönen Schmetterling. Dann werden wir frei sein von Schmerzen, Angst und allem Kummer – frei sein , wie ein freier schöner Schmetterling – und dürfen heimkehren zu Gott. Bei ihm werden wir nie mehr allein sein. Dort werden wir weiterleben, werden wachsen, tanzen, spielen und fröhlich sein. Wir werden auch zusammen sein mit allen Menschen die wir liebten. Dort sind wir von mehr Liebe umgeben als wir uns je vorstellen können!

“In einem Krug hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.”

GedenkGottesdienst für verstorbene Kinder:Töchter und Söhne, Geschwister und Enkel

8. Dezember 2001, 16 Uhr
Ev. Gemeindezentrum Kradepohl, Bergisch Gladbach-Gronau

Eingangsvotum

Wir sind hier zusammen gekommen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen, als Hadernde und Zuversichtliche, als Zweifelnde und Glaubende, als Menschen, die im Glauben leben, und als solche, denen der Glaube schwindet oder gar verloren gegangen ist.
Verschieden sind wir, und doch gibt es eins, was uns verbindet: die Trauer um Töchter und Söhne, Brüder und Schwestern, Enkel, Patenkinder, Neffen, Nichten, Freunde.
So wie wir sind, sind wir eingeladen, vor Gott zu treten. Denn vor Gott dürfen wir gerade auch mit unser Trauer sein. In Seinem Namen dürfen wir hier sein, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Klage/Klagepsalm

1. Hinführende Gedanken zum Klagen
Menschen, die inne halten vor Gott, beschreiten einen Weg, machen sich auf den Weg. Auf diesem Weg gibt es verschiedene Stationen. Eine Station ist immer auch die der Klage. Für uns Menschen ist es lebenswichtig, dass wir klagen dürfen.
Denn: Klagen befreit. Es hilft, Versteinertes, Verhärtetes zu lösen – es zum Fliessen zu bringen. Klagen hilft, zu verwandeln und neue Lebenswege zu öffnen.
So wollen auch wir unsere Klage vor bringen, ihm sagen – in Worten und in der Stille –, was uns entsetzt und schmerzt, was uns zweifeln und verzweifeln lässt was uns wütend und sprachlos macht.

2. Klagen – (Elke Sonnenberg)
Gott, ich klage dir meinen Zustand. Ich rede von dir und fühle mich dennoch verlassen. Ich möchte dir vertrauen und ängstige mich dennoch.
Was ist geschehen?!? Weisst du was das bedeutet, dass da ein Kind – eine Schwester, ein Bruder, ein Mensch – nicht mehr da ist? Siehst du das?!? So vieles – ja manchmal habe ich das Empfinden – alles ist aus dem Rhythmus gekommen. Ich lebe im Chaos. Das macht mir Angst und verstört mich zutiefst.

So rede ich zu dir, Gott, und weiss doch nicht, ob du mich hörst.

Einsamkeit umgibt mich. Es ist so still um mich herum und so manches Mal reisst mich das Nichts in seinen Strudel. Ich stürze und weiss nicht wohin. Das zermürbt. Das macht müde und kraftlos. Das klage ich dir, Gott.

Gott, so gerne möchte ich glauben, dass du da bist als mein Wegbegleiter, und dennoch sehe ich so oft keinen Weg. Ich möchte glauben, dass du mir Licht zugedacht hast, aber ich versinke in meinen dunklen Gedanken. Es ist leer in mir. Mir fehlen die Worte. So klage ich dir in der Stille mein Leid, meinen Schmerz, meine Wut.

Stille

Gott, vor deine Füsse werfen wir unsere Klagen und hoffen – hoffen –, dass du sie hörst. Berge du uns. Zeige uns einen Weg, wenn wir durch dunkle Nacht wandern müssen. Amen.

Biblische Lesung: Psalm 56 (i.A.) – (Ute Rapp)

Du, Gott, hast die Tage meines Elends gezählt; es ist aufgezeichnet bei dir. In einem Krug hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.
Ich habe erkannt: Gott steht mir zur Seite. (…) So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Ansprache – Psalm 56 (Vers 9+10)

Liebe Mütter und Väter, liebe Geschwister und Familien, liebe Mitmenschen!

In den vergangenen Tagen und Wochen habe ich mich langsam an das Thema heran getastet; es ist nach und nach gewachsen. Warum ich mich auf dieses Thema zu bewegt habe: Ich glaube, weil es mir selbst in diesem Jahr sehr nahe gewesen und gekommen ist.Eigentlich bin ich kein Mensch der viel oder schnell weint – so habe ich gedacht, aber dieses Jahr hat manch´ andere Erfahrung mit sich gebracht: Tränen waren oder sind plötzlich da und fliessen, und ich habe viele Menschen mit ihren Tränen gesehen.Ich habe erlebt, wie Tränen Angst machen können: bei anderen und mir. Ich habe gesehen und erlebt, wie Tränen lösen und erleichtern: andere und auch mich selbst.

Tränen gehören zum Menschen; sie sind menschlich – ja: machen uns zu Menschen; sie lassen Gefühle der Trauer und manchmal auch der Freude (ab)fliessen. Tränen erzählen Geschichten. Gerade auch die Tränen, um die wir wissen, können Geschichten erzählen – unzählige!: Geschichten von Menschen, die nicht mehr unter uns leben und die dennoch sehr gegenwärtig für uns sind. Geschichten von Schwestern und Brüdern, von Söhnen und Töchtern, Onkel, Tanten, Cousins, Freunden, … .

Wohl niemand mag ermessen, wie viele Tränen um sie geweint worden sind und auch nach Jahren immer wieder um sie fliessen. Denn wir Menschen weinen, wenn der Schmerz eines Verlustes uns trifft. Wir weinen aus Wut und Scham, aus Reue und Enttäuschung.

Manchmal finden Tränen auch keinen Weg nach draussen, stauen sich in einem an wie in einem Stausee. Mich erinnert daran ein Text, den eine betroffene Schwester aus unserer Kölner Geschwistergruppe geschrieben. Er geht nicht direkt über Tränen, aber er spricht von der Wut, und mit ihr ist es oft ähnlich wie mit den Tränen:

We, Uh, Te   (Elke Sonnenberg)

Wut, da ist sie wieder,
wie so oft in letzter Zeit,
rund, dick,
mitten im Bauch,
nicht loszuwerden,
ein Klumpen, ein dicker, fetter Klumpen,
inzwischen weiss ich wenigstens, wo er hingehört
und manchmal schaffe ich es, ihn loszuwerden,
ohne dass er sich wieder gegen eine Person richtet,
vielleicht Wut über den Verlust,
der so sinnlos erscheint,
nicht greifbar wird,
Wut, die sich jetzt bereits wenigstens ab und zu einmal in Tränen auflöst.
Aber ich kann das Schwert nicht immer finden,
und dann sitzt sie weiter in meinem Bauch,
frisst an mir,
dick, fett, keine Farbe, kein direkt zu benennender Grund,
kein leicht zu findendes, zufriedenstellendes Ventil.

Wut – Tränen: sie sind hier eindrücklich beschrieben. Und es ist gut, sie so oder anders auszudrücken – sie hörbar, sichtbar zu machen.

Hier vorne haben wir ein blaues Tuch ausgelegt: einen Fluss, in das viele Tropfen – auch Tränen – geflossen sind. Wir laden Sie und Euch ein, diesem Meer sichtbare Tropfen – sichtbare Tränen – zu geben. Denn unsere Tränen, die Geschichten erzählen, sind nicht namenlos. Vielmehr tragen sie Namen, die tief in uns eingraviert sind. Die Kinder, um die wir trauern, sind gegenwärtig; sie haben Namen – wir geben ihnen Namen – wir nennen sie beim Namen. Darum laden wir Euch und Sie ein – jeden der mag – auf einen Tränentropfen den Namen des Kindes zu schreiben, um das Sie und Ihr trauert und den Tropfen dann – so Sie und Ihr mögt – auf das blaue Flusstuch zu legen. Vielleicht mögen manche zu dem Namen des Kindes ein Symbol malen. Und bei manchen ist es vielleicht auch so, dass sie um ein Kind trauern, das keinen Namen bekam, weil es sehr früh – während der Schwangerschaft – starb. Vielleicht haben Sie ein Zeichen oder auch ein bestimmtes Wort, das Sie wie einen Namen mit Ihrem Kind verbinden. Wer mag, hat nun Zeit, eine Träne zu beschriften – gemeinsam oder auch allein – und sie auf den blauen Fluss zu legen.

Ansprache Teil II

Tränen erzählen Geschichten. Sie sind nicht nur ein Tropfen Wasser, sondern bergen in sich ein ganzes Universum. Darum sind sie so kostbar. Nicht zuletzt deswegen sind sie auch so wert geachtet von Gott. Er vergisst keine Träne. In den Psalmen spricht eine Beterin – ein Beter:

Du, Gott, hast die Tage meines Elends gezählt; (in einem Krug) hebst du meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.

Gott hebt unsere Tränen auf – ja: er schreibt sie selbst ins Buch des Lebens ein, denn er will sie vor dem Vergessen bewahren. Er sammelt sie in einem Krug auf! Tränen – von Gott gezählt wie kostbare Perlen. Sie sind ihm wichtig. Er lässt sie nicht im Unsichtbaren versiegen, sondern sammelt sie, hebt sie auf; und zeichnet sie in sein Buch des Lebens. Weil Gott die Tränen aufbewahrt; weil er mit ihnen Geschichte schreibt und sie ein für allemal aufhebt, sind sie nicht verloren und können zu neuem Leben helfen.

Denn Tränen lösen das Verhärtete; sie geben dem Starren Lebendigkeit zurück; sie lassen den Schmerz fliessen, der nach aussen dringt, der `raus will aus unserem Körper, der Ausdruck braucht, damit er wenigstens Schritt für Schritt fassbar und begreifbar wird.

Tränen – gespürt in mir drinnen – vielleicht festgehalten auf Zeit und geweint aus Trauer um einen lieben, vertrauten Menschen sind nicht zuletzt auch ein Ausdruck der Liebe, der Beziehung, der Verbundenheit zu diesem Menschen.

Tränen schmerzen und doch haben sie zugleich auch Erlösendes. Denn sie fliessen und bringen damit in Bewegung. Sie sind etwas Lebendiges und helfen zum Leben, zum Neuwerden, zum Wachsen; Tränen – so widersinnig es sich für manchen anhören mag – Tränen sind eine Gabe; eine Gabe Gottes gegen Versteinerung und Todesstarre. Und wenn sie geweint werden und hinausfliessen, dann landen sie doch nicht im Nichts, sondern wie der Psalmbeter es sagt: In einem Krug hebst du, Gott, meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens. Und eine Zeit später kann dieser Menschen sagen: So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Da, wo Tränen sein dürfen, wo sie nicht vergessen werden, wo sie geborgen und aufgehoben sind, da kann es geschehen, dass wieder Licht auf dem Wege aufleuchtet. Da kann ein Mensch – vorsichtig tastend, beseelt, getragen von Hoffnung – sagen: Ich gehe vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden.

Licht ist für uns Menschen lebenswichtig. Als Trauernde spüren wir dies oft in besonderer Weise.

Licht – der Schein einer Kerze – ist unaussprechlich wichtig. Denn eine Kerze gibt Wärme, und sie erhellt die Dunkelheit. Kerzen sind wie Boten, die davon erzählen, dass es Licht und Wärme gibt auch jenseits aller Grenzen,
die uns so beschwerlich sind.
Kerzen können unser Leben erhellen und einen Lichtschein in die dunkle Welt hineinbringen. Sie sind Lebenszeichen, und sie sind Zeichen der Erinnerung.

Dass Kerzen an das Leben erinnern – daran, dass wir leben, das soll uns diese rote Kerze erzählen. Diese Kerze wollen wir für uns anzünden: für uns, die wir leben. Rot ist sie wie das Blut, das in uns fliesst, das Leben ist und Leben bringt. Wir wollen sie anzünden, auf dass uns immer wieder ein Licht aufgeht und wir nie vergessen, wie kostbar das Leben ist.

Rote Kerze entzünden

Und zum Gedächtnis an die verstorbenen Kinder, an die Brüder und Schwestern, die Menschen, die uns als Freund, Enkel, Cousin vertraut waren und sind, zünden wir diese sonnengelbe Kerze an. Sie leuchtet zum Gedächtnis derer, die uns – zur Unzeit, viel zu früh – vorangegangen sind.

Gelbe Kerze entzünden

Licht für uns und für die verstorbenen Kinder: Das soll in unserem Gottesdienst seinen Platz haben dürfen. Und so laden wir Sie und Euch, ein jeden und eine jede, die mag, eine Kerze anzuzünden und sie im Glas auf die Träne zu stellen.

Ansprache – Teil III

Kerzen brennen für uns und die Kinder. Sie sind Zeichen für Gottes Wärme und Licht. Sie wollen uns erinnern: Gott ist das Licht, das nicht verlischt, das scheint, damit wir leben, damit wir Leben neu gewinnen und damit jene leben, die durch den Tod hindurch gegangen sind.

Das Vertrauen, die Hoffnung, dass Gott da ist, dass ER sogar im Dunklen wohnt und ihm nicht entflieht, dass ER das Dunkle, Unwirkliche, Schmerzliche mit aushält: das ist uns als verwaisten Geschwistern, als verwaisten Mütter, Vätern, Grosseltern, als Freunden und Wegbegleitern betroffener Familien oft unbegreifbar.

Und doch gibt es diese Hoffnung. Und ist sie manchmal noch so brüchig und wackelig, so spüren Menschen sie doch immer wieder aufs neue in sich.
Der Psalmbeter – die Psalmbeterin haben sie damals – vor langer, langer Zeit – in sich getragen. Und seitdem haben Menschen ihre Worte immer wieder nachgesprochen: vorsichtig tastend – dann vielleicht auch manchmal voller Zuversicht und Kraft. Auch wir sind eingeladen, diese Worte für uns zu probieren – sie zu buchstabieren, vielleicht nur ganz zögerlich und verhalten, und dennoch in dem Vertrauen, dass sie wahr und wirklich sind.

In einem Krug hebst du, Gott, meine Tränen bei dir auf; und zeichnest sie auf in deinem Buch des Lebens.
So gehe ich vor dir, Gott, meinen Weg im Licht der Lebenden.
Amen.

Fürbitte

In einem kleinen Buch von Jörg Zink gibt es eine Passage, die mich sehr fasziniert und die ich gerne unserem Fürbittengebet voranstellen möchte. Jörg Zink schreibt:

(Ute Rapp)
Manche fragen mich: “Darf man für die Toten beten?” Ich wüsste nicht, was uns hindern sollte.
Sie sind ja nicht tot, sondern leben. Gott – sagt Jesus – ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebendigen. Hier wie drüben. Wenn uns das Gebet mit Menschen verbinden darf, die am anderen Ende der Welt sind, dann doch auch mit denen, die sie verlassen haben. Sie empfangen, was wir ihnen senden, auf dem Weg über die Güte Gottes, die sie auch dort geleitet.

(Dagmar Ibe)
Guter Gott, lass uns nicht verzweifeln und gib uns Kraft mit dem viel zu frühen Tod unserer Kinder weiter zu leben. Lass uns irgendwann wieder die Schönheiten Deiner Erde sehen.
Guter Gott, nimm unsere Kinder auf in Dein Reich und behüte sie. Stärke uns in dem Glauben, dass es Ihnen da, wo sie jetzt sind, an nichts mangelt und dass es ihnen sehr gut geht.

(Michael Laimmer)

(KV)
Gott, wir bitten dich für alle, die trauern und weinen, deren Herz schwer ist und deren Inneres wund.
Für sie bitten wir dich um deinen heilenden Geist.
So bitten wir dich auch für uns: Steh uns bei in unserem Schmerz. Sei an unserer Seite und gebe uns Gewissheit und Zutrauen in deine Nähe.

(Dagmar Ibe)
Guter Gott, wir danken Dir für die Menschen, die immer noch mit uns trauern und die immer wieder mit uns über unsere Kinder sprechen und somit dazu beitragen, dass unsere Kinder nicht vergessen werden.
Guter Gott, wir bitten Dich weltweit für die vielen Eltern, die im letzten Jahr ihr Kind verloren haben. Tröste sie in Ihrem furchtbarem Leid.

© 2001 Kristiane Voll

Der Trost des christlichen Glaubens

von Peter Godzik

Religiöse Menschen werden in ihrer Trauer Zuflucht bei Gott suchen und ihr Kind aufgehoben wissen bei Gott. Er ist es, der es gegeben und wieder zu sich genommen hat. Durch allen Schmerz und alle Traurigkeit hindurch kann das unbedingte Vertrauen auf seine Güte und Hilfe einen tragenden Grund bilden. Denn: »Unsere Kinder sind nicht unsere Kinder« (Kahlil Gibran). Sie gehören einer Lebens- und Liebesgeschichte, die Gott mit ihnen vorhat.

Gott kennt und erwählt uns, noch ehe wir geboren werden: “Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren”.

(Evangelisches Gesangbuch 28,2). Er ruft uns ins Dasein, indem er uns Eltern anvertraut, die durch eine bestimmte Form der Liebe gezeigt haben, daß sie eins miteinander sind und bereit, ein Kind zu empfangen.

Manchmal gibt Gott Leben auch in eine schwache, gefährdete und lieblose Beziehung. Er will damit nicht noch mehr belasten oder gar zerstören, sondern segnen und heilen. Das heranwachsende Kind übermittelt dann jene Botschaft, wie wir sie aus der Josefsgeschichte kennen: »Ihr gedachtet es, böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen« (1. Mose 50,20). Deshalb finde ich es so wichtig, die heranwachsende Leibesfrucht in jedem Fall als Gabe des Herrn (Psalm 127,3) zu achten und zu schützen. Wir werden von Gott gebildet im Mutterleib (Psalm 139,13) für ein Leben in dieser Welt in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Manchmal geschieht es, daß ein im Mutterleib heranwachsendes Kind nicht in dieses Leben hinein geboren wird, sondern von Gott zu sich gerufen wird in seine himmlische Herrlichkeit. Dort lebt und wächst es weiter in einer für uns verborgenen Weise. Es dient Gott, nicht uns mit seinen Gaben.

In früheren Zeiten haben Künstler deshalb die Altäre in den Kirchen mit vielen Kindergesichtern umgeben. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit wollten sie damit die Eltern trösten und ihnen zeigen, daß ihre Kinder leben und eine Aufgabe haben bei Gott. Der frühe Tod eines Kindes kann viele Gründe haben. Gründe, die wir nicht verstehen und niemals verstehen werden. Aber auch Gründe, die sich allmählich unserem Verstehen aufschließen und die wir vielleicht eines Tages annehmen können.

Es tut weh, wenn ein erwartetes Kind nicht in unsere Arme hinein geboren wird und bei uns aufwachsen darf; wenn wir es hergeben müssen, noch ehe es geatmet hat. An seinem toten Körper können wir die Spur jenes »Hauches von Leben« entdekken, den es in dem uns unzugänglichen Raum des Mutterleibes gehabt hat. Es ist — vielleicht auch mit Gefahr und Ängsten, wie Luther einmal vom Sterben allgemein gesagt hat — geboren worden in das Leben vor Gott, das auch auf uns wartet, wenn wir unseren irdischen Weg vollendet haben.

Es hinterläßt mit seinem kurzen Dasein eine Botschaft, die es für uns zu entschlüsseln gilt. In unserer Trauer geht es nicht um das, was vielleicht noch hätte sein können und was wir von diesem Kind alles erwartet haben; sondern darum zu verstehen, was Gott uns mit all dem sagen will — ganz ähnlich wie in der Geschichte der Emmaus-Jünger, die auch traurig waren über den Tod Jesu und erst nicht verstanden haben, warum das alles geschehen mußte und was Gott ihnen mit diesem schmerzlichen Erlebnis an heilsamer Liebe geschenkt hat (Lukas 24,13-35).

Jedes Kind wird geboren und lebt — entweder in der himmlischen Welt bei Gott, geborgen in einem Frieden, den wir ihm nicht zu geben vermögen; oder in dieser irdischen Welt bei seinen Eltern, ihrer Obhut und Fürsorge anvertraut, den Gefährdungen und Möglichkeiten des Lebens ausgesetzt, aufwachsend unter dem Segen Gottes, der allein gibt, daß Leben gedeihen kann: »… der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an unzählig viel zugut und noch jetzund getan« (EKG 228,1).

Ansprache zum “Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder” Frankfurter Kirchentag, 15. Juni 2001

von Kristiane Voll

Liebe Mitmenschen! Und ganz besonders: Liebe Mütter, Väter, Geschwister und Familienangehörige, die Sie undKirchentag Ihr um ein verstorbenes Kind in Ihren Familien trauern!

Zu Beginn dieses Gottesdienstes haben wir Klagen gehört. Klagen zu können und zu dürfen ist auf den ganz unterschiedlichen Wegen durch die Trauer lebenswichtig. Denn Klagen gibt dem Schmerz Raum und Ausdruck. Das zu haben, ist all´ zumal für trauernde Eltern, Geschwister und Menschen aus ihrem nächsten Umfeld wichtig, denn für sie ist die Trauer um den Tod eines Kindes eine dunkle und zutiefst schmerzliche Zeit. Das auszuhalten und zu ertragen, erfordert äusserste Kraftanstrengung.

Trauernde, Traurige, Verzweifelte erleben sich oft wie auf Wüstenwegen. Der Verlust – der Tod des vertrauten, geliebten Menschen – der Tod eines Kindes – hat aus einer bewachsenen, blühenden Landschaft eine Wüste werden lassen. Und dort nun – in dieser unbekannten, unwirtlichen Gegend – in der Wüste – müssen sie einen Weg finden.

Durch Wüste zu gehen, macht Angst. So viel Angst, dass man einfach nur fliehen möchte. Und doch tut es not, diesen Weg durch die Wüste zu gehen, weil wir nur so das Gewesene wahrnehmen und neues Leben entdecken können.

Wüstenzeiten sind harte Zeiten. Sie bedeuten ein beständiges Suchen nach der verschütteten, verborgenen Lebensader. Gibt es sie überhaupt noch – diese Lebensader? Die Wüste lässt oft daran zweifeln, weil es kaum Zeichen von Leben gibt und das Vertraute fehlt.

Wie soll ich leben ohne mein Kind? – Ohne meine Schwester? – Ohne meinen Bruder? Was ist das für ein Leben? Wo blühendes, wachsendes Leben war, spüre ich plötzlich Leere. Das Leben wird zur Wüste.

Durch diese Wüste einen Weg zu finden, kostet unendlich viel Kraft. Es ist härteste Arbeit. Es braucht enorme Anstrengungen, gegen Sand und Wind, gegen Durst und Erschöpfung, zu kämpfen und den Weg zur nächsten Zisterne zurückzulegen. Die brütende, lähmende Hitze am Tag, die klirrende Kälte der Nacht, das Gefühl der ohnmächtigen Winzigkeit inmitten einer grenzenlosen Weite kosten Kraft und führen nicht selten an die Grenzen dessen, was möglich ist. Inmitten der Not und der Entsagung werden jeder Tropfen Wasser, jeder kleine Schattenfleck kostbar.

Manche sagen: “Die Wüste lebt.”, aber das dringt kaum in das Bewusstsein derer durch, die am Anfang ihrer Wüste stehen. Es braucht Zeit, dafür ein Gespür und einen Sinn zu bekommen. Es braucht Zeit, um sich in der Wüste zurecht zu finden und sie als einen Ort des Lebens – als einen Ort des verborgenen, unscheinbaren Lebens zu entdecken.

Ich möchte uns dazu eine kleine Geschichte erzählen, die davon auf ihre Weise etwas zum Ausdruck bringt:

Ein Fluss wollte durch die Wüste zum Meer. Aber als er den unermesslichen Sand sah, wurde ihm Angst, und er klagte: “Die Wüste wird mich austrocknen, und der heisse Atem der Sonne wird mich vernichten.” Da hörte er eine Stimme, die sagte: “Vertraue dich der Wüste an.” Aber der Fluss entgegnete: “Bin ich dann noch ich selber? Verliere ich mich nicht?” Die Stimme antwortete: “Nein, du wirst dich nicht verlieren.”
So vertraute sich der Fluss der Wüste an. Wolken sogen ihn auf und trugen ihn über die heissen Sandflächen. Als Regen wurde er am anderen Ende der Wüste wieder abgesetzt. Und aus den Wolken floss ein Fluss – der Fluss, neu und verändert und doch zugleich auch der gleiche.
(nach Gerhard Eberts, gefunden in: Elsbeth Bihler, Symbole des Lebens – Symbole des Glaubens II, Limburg 1998, 16)

Trauer – die Trauer um ein verstorbenes Kind – ist wie der Weg des Flusses durch die Wüste. Der Fluss hat Angst – grosse Angst. Er klagt und zaudert. Die Angst, sich ganz und gar zu verlieren, ist übermächtig.

Der Fluss braucht Zuspruch, um sich auf das Wagnis seines Weges einzulassen. Auf diesem Weg verändert und verwandelt er sich, und doch bleibt er auch er selbst. Eine schwer vorstellbare Erfahrung: wie soll das gehen? Ich glaube, diese Erfahrung erschliesst sich erst im Erleben. Sie ist mit Worten nicht wirklich zu beschreiben und verständlich zu machen. Ein klein wenig vermag vielleicht die Geschichte davon anzudeuten.

So wie der Fluss Zuspruch und Ermutigung braucht, so brauchen gerade auch trauernde Familien Zuspruch und Begleitung. Auf den Wüstenwegen durch die Trauer ist es unendlich wichtig, Momente des Trostes zu erleben: Eine entgegen gestreckte Hand, eine Umarmung, ein freundliches Wort, die Ermutigung, zu erzählen, ein verständnisvoller Blick können solche tröstlichen Momente sein. Sie sind Lebenszeichen in der Wüste und helfen, den schweren Weg zu gehen.

Die Flussgeschichte erzählt, dass der Fluss sich am Ende der Wüste wiederfindet – neu findet und dass er Leben findet.

Leben finden – Hoffnung auf Leben entdecken: Als betroffene Schwester weiss ich, dass das für viele trauernde Mütter und Väter, für trauernde Brüder, Schwestern und Familienangehörige häufig etwas Schweres, etwas Unwirkliches ist. Im Wissen darum möchte ich mit ein paar Sätzen von meiner Hoffnung erzählen.

Ich vertraue darauf, dass es Gott gibt – dass er da ist, wenn ER mir auch oft unendlich fern scheint.
Und ich vertraue darauf, dass Gott stärker ist als der Tod. Ich glaube, dass er Leben schenkt – Leben auch jenseits des Todes. Es gibt Erfahrungen, die mich in diesem Glauben bestärken; und es gibt Worte, die diesem Vertrauen einen Grund geben. Ein biblischer Vers, der mich hier besonders anrührt und stärkt, steht beim Propheten Jesaja: “Wie ich strömenden Regen über verdurstendes Land ausgiesse, so giesse ich meinen Lebensgeist über dich aus.” Amen.

Unser Marienkäfer Torben

M  anchmal denke ich. es geht schon wieder
A   lles hat eine andere Bedeutung
R  ache gibt es nicht, denn es gibt keine Schuld
I    n meinem Herzen wirst Du immer sein
E   rfahrungen mache mich reicher
N  iemals werd‘ ich Dich vergessen
B   ei wieder wirst Du in mir sein
K   eine Hoffnung, daß alles wieder wird wie vorher
Ä  nderungen bestimmen Deinen Tod
F  riede ist es, wonach ich mich sehne
E  ifersucht hat ein neues Gesicht
R  uhe empfinde ich an Deinem Grab
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geboren am 15. Dezember 1997

gestorben am 17. Dezember 1997

Mit Tränen habe ich Dich begrüßt und mit noch mehr Tränen verabschiedet. Du wurdest alles andere als erhofft, ja eigentlich warst Du am Anfang noch nicht einmal erwünscht. Plötzlich hast Du Dich in unser Leben gedrängt, zu einem Zeitpunkt der ungünstiger nicht hätte sein können. An einem Samstagmorgen machte ich mehr aus Neugier einen Schwangerschaftstest. Eigentlich konnte es gar nicht sein und doch plötzlich – von einer Minute auf die andere änderte – sich unser gesamtes Leben. Im Nachhinein war es gut, daß ich in diesen Augenblick noch nicht ermessen konnte wie gravierend, einschneidend und unvergleichbar sich tatsächlich unser Leben ändern sollte.

Nach vielen, vielen Gesprächen, nach allen Für und Wimarinisder haben wir uns bewußt für Dich entschieden. Später habe ich mir oft die Frage gestellt, ob dieses Abwägen über Dein Leben Dich bewogen hat, so schnell wieder von uns zu gehen, aber wahrscheinlich suche ich einfach nur nach Erklärungen, die mir niemand geben kann.

Die Schwangerschaft hast Du mir und uns nicht leicht gemacht. Die ersten zwölf Wochen habe ich mich so oft im Badezimmer aufgehalten, daß Dein Vater dort Bilder aufhängen wollte, damit ich es etwas wohnlicher habe. Aus Angst, daß sich nun bald unser Leben ändern würde, sind wir von einer Verabredung zur nächsten gehetzt; auch ein Vorwurf, den ich mir später immer wieder gemacht habe. Bei den üblichen Vorsorgeuntersuchungen war immer alles in bester Ordnung. Bis heute läuft mir bei dieser Formulierung ein kalter Schauer über den Rücken. “Alles in bester Ordnung” … Unterleibschmerzen wurden vom Arzt als bedeutungslos abgetan und da Du mein erstes Kind warst, schenkte ich dieser Diagnose nur zu gern Glauben. In der 19. Schwangerschaftswoche machtest Du Dich durch kräftige Tritte – die mir manchmal den Atem nahmen – bemerkbar und wir waren so unendlich glücklich und so unendlich naiv. Nie habe ich mir Gedanken gemacht, daß ich nur wenig Zeit mir Dir verbringen durfte.

An einem Sonntagabend in der 24. Schwangerschaftswoche bekam ich heftige Unterleibsschmerzen, die, wie wir später erfuhr, bereits Wehen waren. Heute – zweieinhalb Jahre nach Deinem Tod – kann ich noch immer nicht glauben, daß ich selbst an diesem Abend keinen Verdacht hatte. Am darauffolgenden Montag, den 15 Dezember 1997, ging ich zu meinem Frauenarzt, da zu den Schmerzen noch ein minimaler Blutverlust eintrat. Trotz meiner Schilderung ließ man mich noch fast zwei Stunden im Wartezimmer sitzen. Bei der anschließenden Untersuchung stellte der Arzt einen geöffneten Muttermund von drei Zentimetern fest. Der Arzt erklärte mir, daß ich sofort ins Krankenhaus Barmbek müßte, wenn Du überhaupt noch eine Chance haben solltest. Aus der Praxis haben wir Deinen Vater angerufen, der mich in Lüneburg abholte und mit uns nach Hamburg fuhr. Dort ging alles schrecklich schnell. Zwei Ärzte teilten uns mit, daß es jetzt zur Geburt kommen würde und das ein positiver Ausgang mehr als fraglich wäre. Keiner konnte und wollte uns sagen, ob und wenn wie lange Du überleben würdest. Nach dieser Nachricht ließen uns die Ärzte für einen kurzen Moment allein. Dein Vater und ich lagen uns in den Armen und wir konnten nicht glauben, was dort um uns herum geschah.

Nach zwei Stunden, um 16.00 Uhr, warst Du da und nach einem kurzen Schrei wurdest Du gleich zur Neonatologie gebracht, so daß wir Dich nicht sehen konnten. Du lebst, Du hast geschrieben, wir fragten uns, ob nicht doch noch alles gut werden könnte.

Als ich Dich das erstemal sah, konnte ich nicht glauben das Du in mir warst und das Du, wo Du doch so perfekt, ja so vollständig aussahst, mit Deinem Leben so kämpfen mußtest. Ganze 790g bei 35 cm, ein Ebenbild Deines Vaters, ganz klein, so zart, so wunderbar. Wir gaben Dir den Namen Torben, so wie ich es mir gewünscht hatte. Aufgrund des hohen Risikos durften wir Dich nicht berühren, sondern nur vor dem Inkubator sitzen und leise mit Dir sprechen. Wir haben Dir von uns erzählt und versucht, Dich zum Kämpfen zu bewegen.

Die nächsten zwei Tage waren geprägt von Hoffen, Glauben, Verzweiflung, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Jedesmal, wenn wir Dich besuchten, gab es neue Nachrichten und jedesmal stürzten wir in eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1997 weckte mich gegen 02.00 Uhr eine Schwester, ein Anruf aus der Neonatolgie für mich. Der diensthabende Arzt erklärte mir, daß eine Hirnblutung aufgetreten sei, die schlimmste aller Nachrichten, und ich wußte aus vielen Gesprächen mit dem Pflegepersonal, daß dies kaum noch Platz für Hoffnung bleiben ließ. Kurze Zeit danach kam Dein Vater, zu diesem Zeitpunkt bekamst Du schon Medikamente gegen die Schmerzen. Die Ärztin sagte uns ohne Beschönigungen, daß Du nun sterben würdest und forderte uns auf, und gab uns damit die Möglichkeit, Dich in unseren Armen einschlafen zu lassen. So durften wir Dich zum ersten- und auch zum letzen Mal berühren, Deinen Duft in uns aufnehmen in der Gewißheit, daß dieser Augenblick mit Dir für die restliche Zeit unseres Lebens reichen mußte. Wir sind unendlich froh, daß wir Dich begrüßen und verabschieden durften; Dich in den Armen halten konnten, als Du von uns gingst.

Du bist gestorben; leise, ruhig, fast heimlich. Noch lange saßen wir so bei Dir, bis wir spürten, wenn wir jetzt nicht gehen, gehen wir nie. Eine junge Schwester hat Dich in den Arm genommen, Dir einen Kuß gegeben und Dich wieder in den Inkubator gelegt. Dies geschah so liebevoll, sanft und selbstverständlich, daß wir es bis heute nicht fassen konnten und dieser Schwester, dessen Name wir nicht kennen, immer dankbar sein werden für diese stumme Anteilnahme und den würdevollen Umgang mit Dir.

Warum Du so früh meinen schützenden Bauch verlassen hast, ist nie geklärt worden. Die Ärzte in Barmbek rieten uns von einer Obduktion ab, da keine Hinweise auf evtl. Fehlbildungen zu finden waren und Dein Körper somit unangetastet bleiben konnte.

Die darauf folgende Zeit liegt immer noch unter einem dichten Schleier; alles war sinn- und hoffnungslos, leer, kalt und grausam. Es verging kein Tag, an dem ich mich nicht fragte, wozu und warum es weiter geht. Diese unendliche Traurigkeit werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen und die Einsicht, daß Machtlosigkeit und Selbstaufgabe nicht immer nur etwas für die Anderen ist. f

Zwei Monate nach Deinem Tod sind wir zu den Verwaisten Eltern gekommen. Dort konnten wir Dir einen Raum geben und offen über Dich sprechen, ohne Gefahr zu laufen, nicht verstanden zu werden. Durch die Gruppe haben wir gelernt, uns mit uns und Deinem Tod auseinanderzusetzen, und das es immer Menschen gibt, die uns verstehen, annehmen und zu uns halten, egal wie es uns geht, vor allem, wenn es uns gerade schlecht geht.

Nach ständigen Selbstvorwürfen, nach ewigen Fragen ohne Antwort, nach einer harten Zeit intensiver Trauerarbeit bin ich davon überzeugt, daß jeder Mensch auf dieser Welt seine Aufgabe hat; unser Torben hat diese Aufgaben in 36 Stunden erledigt und dafür danken wir ihm.

Im August 1999 wurde, nach einer komplizierten Schwangerschaft, unser zweiter Sohn, Leif Marten, geboren. Wir werden ihn in dem Bewußtsein aufwachsen lassen, daß er einen großen Bruder hat, der auf ihn aufpaßt und der zu unserer Familie gehört. Der Geburtstag von Torben sowie sein Todestag gehören genau so zum Lauf des Jahres, wie der Gang zum Friedhof und die vielen kleinen Dinge, die uns an ihn sichtbar und unsichtbar erinnern. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke, ja sogar von ihm spreche. Er ist bei mir fast so, als könnte ich ihn spüren, aber nach der Zeit, die vergangen ist, tut es nicht mehr ganz so doll weh.

Die Babygruppe, der wir uns damals angeschlossen haben, gibt es mittlerweile nicht mehr, aber zwischenzeitlich sind daraus echte Freundschaften entstanden. Menschen, die auch heute noch mit uns über Torben sprechen und die es nicht leid sind uns zuzuhören. Einer dieser ganz besonderen Menschen gilt dieser Bericht, verbunden mit einem herzlichen Dank für alles, was Du für mich getan hast; für alles, wozu Du mich ermutigt hast; daß Du immer an mich geglaubt hast und immer für mich da bist und warst.        Danke Pirko

Annette N.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammenkauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege saß, schien fast körperlos. Sie erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: „Wer bist du?“ Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und leise, daß sie kaum zu hören war.  „Ach, die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte grüßen. „Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit mißtrauisch.

„Natürlich kenne ich dic. Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“  “ Ja aber, …“ argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast Du denn keine Angst?“  „Warum sollte ich Angst haben und vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch genauso gut wie ich, daß du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“  „Ich bin … traurig“ antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

Die Kleine alte Frau setze sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch, was dich bedrückt.“

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. „Ach, weißt du, “ begann sie zögernd und äußerst verwundert, „es ist so, daß mich neinfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter  die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“ Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist  heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Atemnot und Magenkrämpfen. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie  Herzschmerzen. Sie sagen: Man muß sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur  Schwächlinge Weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen,  damit sie mich nicht fühlen müssen.“

„Oh ja, „, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen habe ich schon oft kennengelernt.“ Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen.  Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.   Aber nur, wer die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen  gar nicht, daß ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narbe. Oder sie legen sich einen dicken Panzer zu aus Bitterkeit. „Die Traurigkeit zu. “

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz  verzweifelt.  die kleine alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“. flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln  kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.“  Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: „Aber … aber … – wer bist du  eigentlich?“

„Ich ?“ sagte die kleine alte Frau schmunzelnd und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. „Ich bin die Hoffnung“.

Das Tränenkrüglein

Das Tränenkrüglein

In alter Zeit, lange, bevor es dich und mich gab, da lebte einmal eine Witwe, der ward ihr einziges Kind vom Tod geholt. Die vermochte sich vor Herzeleid nicht zu fassen und weinte sich am Tag und in der Nacht die Augen aus.

Es ergab sich aber, dass sie einmal des Nachts einen Botengang machen musste von einem Dorf zum nächsten. Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, denn ihre Augen waren getrübt von all den vielen Tränen um ihr Kind. Doch auf einmal tauchte eine seltsame Geisterschar vor ihr auf, das war die Frau Berchta mit ihren Heimchen. Die zogen auf dem verschneiten Feld mit leisem Singsang an ihr vorüber, dann über den Heckenzaun und strebten nun dem Walde zu. Schon war der Zug bei den ersten Tannen angekommen, da trippelte ängstlich ein Kind mit nackten Füßchen im kalten Schnee der Schar hinterher und schleppte an einem schweren Krug. Als es nun auch an besagten Heckenzaun kam, waren die anderen schon alle hinüber. So lief es denn ängstlich hin und her und suchte nach einem Durchschlupf im Flechtwerk, denn der Steinkrug war viel zu schwer für das zarte Kindchen, und es konnte ihn nicht drüber heben. Da endlich erkannte die Frau, dass es ihr eigenes Kind war, und es drückte ihr beinahe das Herz ab. Sie rief es bei seinem Namen, aber das Heimchen hörte nicht hin.

Da fasste es die Mutter bei der Hand, doch das Kind erkannte sie nicht. Der Mutter blutete das Herz bei alle dem, und sie weinte und presste das Kleine an ihre Brust. Ais aber die salzigen Tränen des Kindes Äuglein netzten, da erkannte es die Mutter und sagte wie im Traum: »O wie warm ist Mutterarm!« »Ach Kind, willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben?« fragte traurig die Frau. Sprach das Kind: »Lieb Mutter mein, leg ab die Trauer und lass das Weinen. Denn alle Tränen, die du vergießt, die fließen über mein Grab in diesen Krug. Den muss ich nun nachschleppen, und er wird immer noch voller. Da schau nur, mein Hemdchen ist schon ganz nass, und die Kinder laufen mir alle davon. So gib mich doch endlich frei und lass mich los.« Da weinte sich die Mutter einmal noch von Herzen aus, küsste den blassen Kindermund, hob ihr Liebstes über den Zaun und sah mit sehnendem Blick dem weißen Hemdchen nach, bis es fern in der hellen Schar untergetaucht war. Wollte sie dann wieder einmal der Gram übermannen und wollten ihre Augen überfließen vor Kummer, so hat sie schnell an das Krüglein gedacht und an den Zaun, schluckte tapfer die Tränen herunter und trug nun ihr Weh ohne Frage und Klage.

Deutsches Volksmärchen

Das Tränenkrüglein

Von Trennung, Tod und Trauer, Märchen zum Gelingen des Lebens,
Angeline Bauer S. 55/64

Damit wir uns dem Märchen annähern und tiefer in die Bilder hineinsehen können, möchte ich es zuallererst Schritt für Schritt erläutern.

Schon im ersten Satz erfahren wir, wie unermesslich groß das Leid und Unglück ist, denn der Mutter wurde nicht nur ihr einziges Kind vom Tod geholt, sie ist auch noch Witwe. Sie hat also vorher bereits ihren Mann verloren und muss ihr Los nun ganz alleine tragen.

Die Augen der Mutter sind getrübt van all denbut_buch_04 vielen Tränen, die sie weint, und: Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, erfahren wir weiter. Die Mutter hat also die Verbindung zum Leben verloren und nimmt nichts mehr wahr von dem, was um sie herum vorgeht. Sie hat sich ganz zurückgezogen in ihre Trauer und lässt nichts und niemanden mehr an sich heran. Ihre Welt ist einsam, verschneit und selbst der Vollmond schafft es nicht, Licht in die dunkle Nacht zu bringen, die sie umgibt.

Im nächsten Bild sehen wir eine seltsame Geisterschar.Bauer Von Frau Berchta ist da die Rede, die mit ihren Heimchen über das verschneite Feld zieht. Frau Berchta, das ist ein anderer Name für Perch, Molle oder Hei, eine Unterweltsgöttin aus der Sagenwelt, zu der die Toten gehen. Diese Unterwelt hat aber nichts mit unserer Vorstellung von Hölle zu tun, sondern ist einfach nur als »Welt der Toten« zu begreifen. Heimchen sind Insekten aus der Familie der Geradflügler, zu denen z. B. auch die Grillen gehören. In der Mythologie werden »geflügelte« Tiere als Seelenträger gesehen, denn weil sie fliegen können, glaubte man, dass sie die Seelen der Verstorbenen in den Himmel tragen. Im Märchen werden Heimchen dann zu Zwergen und Elfen mit durchsichtigen Flügeln. In vielen deutschen Sagen finden wir diese Verbindung zwischen Heimchen und der Frau Berchta oder Percht, die mit ihnen durch eine Art Zwischenwelt zieht oder sie in das Reich der Toten geleitet. Normalerweise hat kein Sterblicher Einblick in diese »Zwischenwelt«, aber unsere trauernde Mutter, wohl selbst vor Kummer schon mehr tot als lebendig, kann die seltsame Geisterschar sehen.

Sie kann beobachten, wie sie singend wie die Zirpen durch die verschneite Nacht zieht, wie die Heimchen schließlich über einen Heckenzaun klettern und dann dem Wald entgegenstreben. Dieses über den Heckenzaun klettern, steht symbolisch für das Überwechseln in die andere Welt, denn der Zaun markiert hier die Grenze zwischen Leben und Tod.

Als Nächstes erzählt das Märchen von einem kleinen, zarten, ängstlichen Kindchen, das sich mit einem viel zu großen und viel zu schweren Krug voller Tränen abmühen muss, und das verzweifelt versucht, den Anschluss an eine Gruppe »Gleichgesinnter« zu finden, die ihm in der Welf der Toten, wo es ja jetzt nun einmal sein muss, so etwas wie Schutz und Geborgenheit bieten könnte. Das Kind, das wird in diesem Bild am Zaun sehr deutlich, gehört nicht mehr in die Welt der Mutter, aber weil die Mutter es nicht loslässt, findet es auch seinen Weg in die Welt der Toten nicht, wo die kleine Seele endlich zur Ruhe kommen könnte.

Die Tränen der Mutter, die direkt auf die Augen des Kindes fallen, öffnen ihm dann aber noch einmal den Blick für das Diesseits, und es erkennt die Mutter und fühlt ihren Schmerz. Und sofort versucht die Verzweifelte auch wieder, ihr Liebstes in ihrer Welt festzuhalten. Ach Kind, fleht sie willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben? Nur wenn die Mutter das Kind gehen lässt können beide ihren Frieden finden.

Aber das Heimchen weiß, es gibt kein Entrinnen, und der einzige Weg den Frieden zu finden, ist für sie beide, dass die Mutter es gehen l lässt. Darum bittet es dann auch inständig, und es zeigt der ; Mutter den viel zu schweren Krug, i n dem es die Tränen auf[ fangen muss und zeigt auch das nässe Hemdchen, das es trägt.

Unser Wort »Hemd« wird vom Wort ham bzw. dem althochdeutschen Wort hamo abgeleitet, was so viel bedeutet wie ; Hulle, Haut, Kleidung, aber auch Gestalt, Seele, oder Schutzgeist. Das Hemd ist das erste Kleidungsstück, das wir angezogen ,  bekommen und das letzte, wenn wir ins Grab gelegt wer|  den. Es ist das Kleidungsstück, das direkt auf der Haut getragen wird, und deshalb ist es symbolisch mit dem Wesen eines Menschen verbunden. Der Volksmund sagt: Wer sein letztes Hemd gibt, gibt olles was er hot und noch ein bisschen mehr – denn ohne Hemd dazustehen bedeutet, keinen Schutz mehr zu haben und den Blick freizugeben auf sein Intimstes und damit auf seine Seele. In einigen Regionen Deutschlands bekamen Konfirmandinnen und Konfirmanden noch im letzten Jahrhundert ein Totenhemd zur Konfirmation geschenkt, und Mädchen nähten Totenhemden für ihre Aussteuer. Solche Bräuche versinnbildlichen, dass der Tod zum Erwachsensein gehört und dass das Leben vergänglich ist.

In dem tränennassen Hemdchen des Kindes sehen wir also die von der Trauer der Mutter beschwerte Seele. Und als die Mutter dies wahrnimmt und das Flehen und Bitten ihres Kindes hört, versteht sie endlich. Da weint sie sich einmal noch von Herzen aus, dann hebt sie es über den Zaun und lässt es endlich gehen, hebt es. Das Über-den-Zaun-heben, ist ein Bild des bewussten Loslassens, denn der Zaun symbolisiert in diesem Märchen die Grenze zwischen unserer Welt und dem Reich der Toten.

Nicht dass die Mutter nun nicht mehr traurig wäre und das verlorene Kind vergessen würde. Aber erst durch das bewusste Loslassen kann sie sich den Tod des Kindes als unabdingbare Tatsache eingestehen, was Voraussetzung dafür ist, in die nächste Phase der Trauer eintreten und dem Kind einen neuen, der Situation angemessenen Platz in ihrem Leben einräumen zu können – den Platz eines »inneren Begleiters«. Die Beziehung zu ihrem Kind bleibt zwar weiter bestehen, aber sie hat eine andere Qualität erhalten. Und damit kann die Frau sich wieder dem Leben zuwenden, könnte Neues und Schönes in sich entstehen lassen und wieder in Beziehung zu ihren Mitmenschen treten.

Versuchen wir einmal, das Märchen auf eine reelle Lebenssituation zu übertragen. Da ist eine Mutter mit einem Kind, das sterben wird. Man hat es ihr gesagt, ihr Herz spurt es auch, aber sie will es nicht akzeptieren. Alles in ihr sträubt sich dagegen. Vielleicht saß sie schon Wochen, Monate oder gar Jahre am Bett des kranken Kindes. Der Vater hat längst aufgegeben. Er ist der Trauer überdrüssig, hat Mutter und Kind verlassen und sich wieder dem Leben zugewandt. Das kann ein »inneres Verlassen« sein – vielleicht ist er ja physisch noch da, aber auf der psychischen Ebene ist er längst weggegangen.

So ringt nun die Mutter alleine um das Leben des Kindes. Hier ist sie, dort der Tod, und die Seele des Kindes ist hin- und hergerissen zwischen beiden Welten. Das Kind weiß, es

muss gehen, es gibt kein Zurück ins Leben, aber die Mutter hält es mit all der Macht ihrer Tränen fest. Sie denkt, wenn sie nur genug dran glaubt und nicht aufhört zu kämpfen, dann kann sie für ihr Kind den Tod überwinden.

Selbstverständlich können wir die Figuren des Märchens beliebig austauschen. Der Vater kann den Platz der Mutter einnehmen. Er bleibt bei dem Kind, die Mutter ist längst gegangen oder es stirbt die Mutter, und die Tochter/der Sohn kann nicht loslassen. Was aber immer bleibt, ist der schreckliche Schmerz des Abschiednehmens. Und gerade hier hat das Märchen sehr tröstende Bilder für uns und zeigt uns, was das Trauern vollbringen kann. Zunächst einmal geht es um die Fähigkeit, Gefühle gleich welcher Art zu erleben, sie auszudrücken und auszuhalten. Man ist traurig und weint. Wut will vielleicht herausgeschrien oder abgearbeitet werden. Das Gefühl der Leere wird möglicherweise durch Schweigen ausgedrückt und so fort. Erst das Ausleben all dieser Gefühle ermöglicht das Abschiednehmen.

Schließlich hebt die Mutter das Kind über den Zaun und lässt es fortgehen. Damit vollzieht sie aktiv den Akt der Trennung, was auch beinhaltet, dass sie alle eigenen Anteile zurückholt und die des anderen an ihn zurückgibt. Dies gelingt der Mutter, ohne dass es sie zerstört, und so kann sie als eigenständige Persönlichkeit in die reale Welt zurückkehren und auch dem Kind seinen Weg in die Welt der Toten freigeben. Wenn man

so will, leistet sie eine Art psychischer Sterbehilfe, denn auch das Fortgehen ist ja nicht einfach, aber sicher fällt es dem Sterbenden leichter, wenn er weiß, dass er von dem Zurückbleibenden nichts mitnehmen muss und dessen Segen hat. Viele Menschen, die einen Anderen durch eine lange Krankheit bis hin zum Tod begleitet haben, berichten davon, dass der Kranke etwa zwei bis drei Tage vor um  seinem Tod nicht mehr wirklich ansprechbar war. Der Sterbende braucht Zeit,sich ganz aus seinem Leben loslösen zu können.

Er hatte einen nach innen gekehrten Blick, wirkte völlig abwesend oder »wie in einer anderen Welt« und hat seine Angehörigen vielleicht nicht einmal mehr erkannt. Für den Sterbenden ist dies die Phase des Loslassens. Er geht in eine Art Niemandsland, ist nicht mehr hier und noch nicht dort. Er braucht diese Zeit »zwischen den Welten«, um sich ganz aus seinem Leben lösen zu können. Das Schlimmste, was man ihm antun könnte, wäre, ihn immer wieder anzuflehen: »Bleib doch hier, ich brauche dich, du darfst mich nicht verlassen!«

Wenn wir den Sterbenden lieben, müssen wir tun, was die Mutter in unserem Märchen tat – ihn freigeben und „über den Zaun heben“, so schwer uns das auch fällt In Gesprächen mit Menschen, die auch Jahre nach dem Tod eines Partners oder Kindes nicht damit fertig wurden, habe ich festgestellt, dass einige von ihnen – bewusst oder unbewusst- »je länger traurig sein« mit »desto mehr lieben« gleichsetzen. Viele glaubten, durch dieses »desto mehr lieben«, ihren Unmut darüber entlasten zu können, selbst noch am Leben zu sein, während der geliebte Mensch sterben musste.

Diese Menschen sprachen von »unüberwundener Trauer«, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht wirklich getrauert, sondern im Gegenteil, intensive Trauerarbeit sogar vermieden haben. Sie haben sich vielleicht aus dem Leben zurückgezogen, waren depressiv, haben sich selbst verloren – aber sie haben nicht wirklich getrauert. Mit Trauern ist nicht nur gemeint, traurig zu sein und einen Verlust zu beklagen – Trauern ist ein intensiver und oft sehr schmerzhafter Prozess, mit dem letztendlichen Ziel, den Verlust des Verstorbenen zu überwinden, sich von ihm zu lösen (was keinesfalls gleichbedeutend ist mit »ihn vergessen«) und als Mensch mit neuen Zielen und Visionen weiterzuleben.

Zur Trauer gehört die Auseinandersetzung mit dem Toten, mit dem was er einem bedeutet hat, im positiven wie im negativen Sinne, und zur Trauer gehört auch das Zulassen so ambivalenter Gefühle wie Liebe und Hass.

Doch so notwendig derartige Gefühlsirritationen sind, so gefürchtet sind sie auch, und zwar von den Betroffenen selbst genauso, wie von den Menschen, die mit den Trauernden zu tun haben. Dann hört man Forderungen wie: »Du musst tapfer sein!« Und: »Lass dich nicht so gehen, das Leben geht schließlich weiter!« Oder der Hinterbliebene setzt sich selbst unter Druck, in dem er sich glauben macht, er könnte den Verlust schnellstmöglich verarbeiten und zu zügig zu seinem gewohnten Alltag zurückkehren.

Häufig steckt dahinter aber eine unbändige Angst vor den gewaltigen Gefühlsstürmen, die losbrechen könnten, wenn wir uns der Trauer wirklich öffnen. Angst, den Schmerz nicht aushalten zu können, Angst vor der Endgültigkeit des Abschieds. Dann lieber gar nicht fühlen, den Schmerz verdrängen, sich in die Arbeit stürzen, sich betäuben und ablenken um jeden Preis Hinzu kommt, dass ambivalente Tragegefühle in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Wer weint und schreit, den Verstorbenen vielleicht klarer liebt als je zuvor, andererseits aber auch seiner Wut über ihn, dass er einen verlassen hat, Ausdruck verleiht, das Gute wie das Schlechte an ihm beschreibt und sich dann wieder mit Schuldgefühlen herumplagt und sich anklagt, der erntet im Allgemeinen wenig Verständnis bei seinen Mitmenschen.

Gefühle und Erinnerungen, die peinlich oder beängstigend sind, werden darum oft verdrängt, verleugnet und beschwichtigt. Dadurch wird der Verstorbene oftmals verherrlicht und auf ein Podest gestellt, und die seelische Konfrontation mit uns selbst, unseren Erinnerungen und unserem Verlust werden unmöglich gemacht.

Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. DOS Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an ihn, in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbst- bestimmtes, neues Leben führen kann.

Die Trennung wird nicht einfacher zu erfragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.

Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. Das Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen   am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an   ihn, so in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbstbestimmtes, neues Leben führen kann. Die Trennung wird nicht einfacher zu ertragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das  hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.

Trauerkrankheit

Sie erinnern sich, was ich zuvor über die Trauerphasen geschrieben habe: Zur dritten Trauerphase gehört das Loslassen  und Sich-Trennen. Der Verstorbene nimmt einen neuen Platz  im Leben des Hinterbliebenen ein, wird zu einer Art innerem Begleiter oder Schutzengel für ihn. Damit das so positiv verlaufen kann, muss vorausgegangen sein, dass der im Leben Gebliebene auch die negativen Gefühle für den Verstorbenen wahrnehmen, äußern und somit in seine Trauer einbeziehen könnte. Denn wird der Verstorbene nur positiv gesehen und ein glorifiziertes Bild von ihm aufgebaut, führt die Identifikation mit ihm oft zu der Problematik, dass wertvolle Anteile des eigenen Ichs nicht mehr gesehen und anerkannt werden. Dafür richten sich Anklagen, die von sich dem Verstorbenen gelten, mit dem glorifizieren Bild aber nicht mehr zu vereinbaren sind, gegen das eigene Ich. Natürlich gehören Selbstanklagen mit zum Wechselbad der Gefühle eines Trauerprozesses. Verlieren wir uns aber in ihnen und hören sie auch nach Verlauf von Jahren nicht auf, kann das Ausdruck einer narzisstischen Neurose sein. Sigmund Freud betont in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie. Wird der Zorn auf den so sehr geliebten, verstorbenen Menschen unterdrückt, dann verinnerlicht und gegen das eigene Ich gewendet, findet eine negative Fixierung an das »verlorene Objekt« statt. Die Folge ist, dass der Trauernde zum Melancholiker wird, für den es nur noch sein Leid gibt, der nichts Neues mehr leben kann und für andere Menschen unerreichbar bleibt. In solchen Fällen sprechen Psychologen von Trauerkrankheit.