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Gedanken zur Adventszeit

Ellen Ringhausen, Pastorin
Seelsorgerin in der Kinderklinik Lüneburg

In einer Reihe von Kirchen finden in diesen Wochen vor Weihnachten Gedenkgottesdienste für verwaiste Eltern und ihre Angehörige statt. Da wird in besonderer Weise der verstorbenen Kinder gedacht, die in diesem Jahr und in den vergangenen Jahren verstorben sind. Alle, die sich versammelt haben, sind von der Trauer gezeichnet, daß sie nicht mehr sagen können: „Mein Kind lebt und es geht ihm gut”, sondern: “Es ist tot und es fehlt mir immer wieder so sehr.”

Da werden wir Fotos von der Tochter und dem Sohn im Wohnzimmer aufstellen und uns immer wieder daran erinnern, wie unser Kind herumsprang und fröhlich war. Aber wir können uns gegenseitig nichts mehr erzählen und nichts mehr miteinander erleben. Wir nennen den Namen und vermissen es immer wieder aufs Neue. Rätselhaft und grausam erscheint uns Gott, der uns allen das Leben schenkt, aber dann doch Kinder sterben läßt, auf die wir gewartet, über deren Geburt wir uns gefreut haben. Und dann mußten wir fassungslos erleben, daß sie keine Kraft zum Weiterleben mehr bekamen

Als einstmals die Israeliten als Sklaven in Babylon fern der Heimat leben mußten, waren sie verzweifelt und hatten alle Hoffnung auf eine Rückkehr und auf Gottes Hilfe verloren . Doch da fängt der Prophet Jesaja im Auftrage Gottes zu reden an.

‘Ich will die ehernen Türen zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrechen und will dir heimliche Schätze geben und verborgen Kleinode damit du erkennst, daß ich der Herr bin, der dich beim Namen ruft, der Gott Israels.”( Jesaja 45. Vers 2) Gott will uns vorangehen, dort, wo uns der Weg versperrt ist, wo wir ausgesperrt oder eingesperrt werden. Mit ihm werden wir Kostbarkeiten finden und wieder glauben lernen, daß wir ihm wertvoll sind.

In dem Buch von Anselm Grün “ 50 Engel für das Jahr”, stieß ich zu meiner Überraschung auf den Engel der Trauer. Kann denn ein Engel der Trauer einem traurigen Menschen etwas Gutes bringen? Ist er nicht selber stumm und kraftlos? Amselm Grün schreibt: ”Der Engel der Trauer kann Dich nicht vor dem Schmerz bewahren…. Aber Du kannst gewiß sein, daß Du nicht allein bist mit Deinem Schmerz, daß der Engel der Trauer Dich darin begleitet und daß er Deinen Schmerzen neue Lebendigkeit verwandeln wird”. Ich möchte hinzufügen: ”Auch wenn Du Dir das jetzt noch gar nicht vorstellen kannst” Vielleicht sind das dann die mitfühlenden Worte der Nachbarn und eines Tages die Erkenntnis, daß der Tod ihres Kindes ihnen die Augen geöffnet hat für das Leid eines anderen Menschen.

Als der Theologe und Pfarrer Karl Barth einen Tag vor seinem Tod mit einem Freund telefonierte, sagte er: “Ja, die Welt ist dunkel. Aber es wird regiert vom Himmel her… Gott läßt uns nicht fallen. Es wird regiert” Das war sein letztes Wort in seinem Leben

Die Engel an Weihnachten bringen diese Botschaft von Gottes Herrschaft: ”Euch ist heute der Heiland geboren. In Jesus Christus wird uns das neue Leben geschenkt.

Wo ist Gott, wenn ein Kind stirbt?

von Reinhard Behnke

Ich bin bescheidener geworden. Der Gott, an den ich glaubte, hat im Kinderkrankenhaus Federn gelassen: die Allmachtsfeder, die Wunderfeder, die Es-wird-immer-alles-gut-Feder. Allmacht und Wunder — das waren für mich so etwas wie Markenzeichen im guten Sinn. Ich hatte sie — so war das nun mal aus den biblischen Geschichten übernommen, ohne daran zu denken, daß der Gott jener Menschen, die hier ihre Erfahrungen erzählen und deuten, mir ganz anders begegnen könnte. Die Wunder, die ich Gott zutraute, hatte ich mir ausgedacht. Die Allmacht, die ich ihm zuschrieb, sollte meine Ohnmacht auffangen. Warum auch nicht? Das geht vielen so.

Nur: Ich habe nicht erlebt, daß Gott meine Wunder tat, und auch nicht, daß er meine Ohnmacht mit Macht aufwog. Im Gegenteil:

Eltern forderten mich auf, mit ihnen gemeinsam für ihr Kind zu beten. Wenig später starb es. Gern hätte ich ein Wunder erlebt. Statt dessen kam, wie befürchtet, der Tod. Gern hätte ich Gottes Allmacht erlebt: ER — gewiß stärker als der zu schwache Herzmuskel des Mädchens. Statt dessen erlebte ich meine Ohnmacht und die der Eltern.

»Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr.« Das sind Sätze aus dem Buch des Propheten Jesaja. Ich schenke ihnen Glauben, wenn sie auch bitter schmecken, denn sie passen zu dem, was ich erfahre. Ich frage: Gott, was für Gedanken hast du denn, und welche Wege gehst du? Gott, ich werde nicht schlau aus dir.

Manchmal sehe ich ein neugeborenes Baby, das sterben muß. Entkräftet liegen seine Arme zu beiden Seiten, und ich denke:

wie Jesus am Kreuz. Die Augen leer. Kein Lebenswille, den ich sehen könnte. Gottverlassen — so sieht es aus. Ich glaube, so was hat Jesus von Nazareth auch erlebt. Ich war nicht dabei. Aber ich fühle mich an ihn erinnert. Wir haben ja alle eine Ahnung vom Tod. Es scheint mir, als stürbe er erneut mit jedem Kind, das nicht leben kann. Wegbegleiter im Tod. Grenzgänger in ein »Land«, das uns nicht offensteht, solange wir leben. Eltern nicht, mir nicht, niemandem. Und nicht nur, daß wir allein zurückbleiben: Es gibt auch kein Verhandeln. Der Tod läßt sich nicht umstimmen, auch nicht bestechen von der Medizin. Es gibt keine Kompromisse. So erlebe ich es.

Deshalb glaube ich nicht mehr an Wunder, obwohl ich es mitunter immer noch gern würde. Wo sich Wunder zu ereignen scheinen und andere Menschen daran glauben, lasse ich das gelten. Was auch sonst? Aber ich rechne nicht mit ihnen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Es ist wirklich mühsam. Ich bin Theologe und Pastor, und mitunter ist meine Enttäuschung über meinen wunderlosen und machtlosen Gott groß. Ich neige dann dazu, die Menschen der Bibel als unaufgeklärt zu sehen und ihren Gott als Einbildung.

Mein eigener Allmachtsgott von früher hat sich ja schon als Einbildung erwiesen. Zumindest vertraue ich ihm nicht mehr. Aber dennoch ist es damit nicht getan. Warum, weiß ich auch nicht genau. Jedenfalls empfinde ich ein argloses Vertrauen in den Momenten, in denen ein Kind stirbt. Ich spüre den Impuls, es zu entlassen, ihm »seinen« Weg zu lassen, aus Respekt und im Vertrauen darauf, daß Jesus, der Gekreuzigte, von dem seine Freunde sagten, er sei auferstanden, ihm ein erfahrener Wegbegleiter ist. Weil dies Vertrauen in mir ist, glaube ich seinen Freunden.

 

Einsendungen Glaube

Mein kleines Bärchen,
ehe es Dich gab, da machte mir der Tod Angst,
heute bin ich mir sicher, dann zu Dir zu gehen.
Ehe es Dich gab, da glaubte ich nicht daran, daß es zwischen Himmel und Erde etwas gibt,
doch Du hast mich davon überzeugt, da ist mehr, als wir jemals erahnen können.
Schon als ich Dich zum ersten Mal in den Armen hielt, da wußte ich, Du bist zur Besuch,
doch als Du dann gegangen warst, da habe ich lange und oft noch gespürt.
Bevor ich Dich kannte, frage ich mich oft nach dem Sinn des Lebens,
ich fragte mich besonders oft danach, warum so manche Dinge passieren,
es könnte doch keinen Gott geben, der Böses zuläßt, warum tut er das.
Heute weiß ich, daß wir daraus lernen sollen, und daß alles Böse etwas Gutes nach sich zieht.
Als Du gingst, da wollte ich mit Dir gehen, ich war schwach,
heute bin ich stärker, denn Du bist immer bei mir.
Und ich weiß, daß auch ich und meine Wünsche etwas wert sind, auch wenn sie noch immer nicht
von allen respektiert werden, doch ich glaube, es war der Sinn in Deinem
kurzen Leben, mir das zu zeigen.
Wärest Du nicht gestorben, wir hätten Deine beiden kleinen Schwester
vielleicht niemals kennengelernt,
dennoch vermisse ich Dich noch immer ganz, ganz dolle, obwohl Du immer bei
mir sein wirst.

Anja Schröder in Erinnerung an ihren Sohn Jannik

Gott kennt die Ängste unseres Herzens,er
weiß um unseren innersten Schmerz.
Und er kennt die Trauer,dir uns beim Abschied von einem geliebten Menschen
erfüllt.

Gott weiß aber auch,wie stark und mutig
unser Herz sein kann.Vielleicht hat er uns diese Last,an der wir so schwer
tragen,auferlegt,damit sich alle unsere inneren Kräfte mobilisieren;oder er
will
uns dadurch neue,
bisher verborgen gebliebene Wege führen;
vielleicht kann er über unser Leid Zugang zum Herzen eines anderen finden,
oder er hat uns damit eine Aufgabe zugedacht,deren Erfüllung uns zu jenem
Maß an innerer Reife führt,
das wir sonst niemals erreichen könnten.

Petra N. und Marco d. F

Mein Mann und ich sind seit mehreren Jahren Christen, und der Tod unseres kleinen Sohnes Marlon in der 39. SSW hat uns natürlich vor viele Fragen gestellt und das Bild, dass wir bis dahin von Gott hatten, in Frage gestellt.  

Ich glaube, dass man natürlich auf Gott wütend sein darf,   und dass Gott das versteht. Eigentlich ist alles, was ich bis zum 17.11.2001 geglaubt habe (an diesem Tag wurde unser Marlon geboren),  was ich für die Wahrheit oder für Gottes Willen und sein Wesen gehalten habe, seit diesem Tag erschüttert. Doch das Einzige, dessen ich mir sicher bin, ist dass Jesus lebt und dass er für uns gestorben und wieder auferstanden ist,  auch für Marlon!  Deshalb bin ich überhaupt noch am Leben, weil ich weiß, dass das die Wahrheit ist und dass Marlon lebt und wir eines Tages zusammensein werden. Wenn ich das nicht wüßte, hätte ich mein Leben bestimmt beendet, nachdem ich wußte, dass Marlon nicht mehr lebt, denn dann wäre es leichter gewesen, damit zu sterben als damit zu leben! 

Ich bin sehr, sehr wütend auf Gott und verstehe überhaupt nicht, wie er das zulassen konnte, aber dadurch, wie unsere Umstände sind, verändert sich die Wahrheit nicht, und die ist, dass Jesus lebt, und alle diese Babies, die hier auf dieser Seite genannt sind, bei ihm LEBEN! 

Ich stelle mir manchmal vor, wie die Babies dort zusammen spielen und lachen, und es tut so weh, Marlon hier niemals lachen sehen zu können. Aber eines Tages werde ich ihn sehen! 

– Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz… – (Offenbarung 21, 4) 

Birgit Schweda

Ansprache zum “Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder” Frankfurter Kirchentag, 15. Juni 2001

von Kristiane Voll

Liebe Mitmenschen! Und ganz besonders: Liebe Mütter, Väter, Geschwister und Familienangehörige, die Sie undKirchentag Ihr um ein verstorbenes Kind in Ihren Familien trauern!

Zu Beginn dieses Gottesdienstes haben wir Klagen gehört. Klagen zu können und zu dürfen ist auf den ganz unterschiedlichen Wegen durch die Trauer lebenswichtig. Denn Klagen gibt dem Schmerz Raum und Ausdruck. Das zu haben, ist all´ zumal für trauernde Eltern, Geschwister und Menschen aus ihrem nächsten Umfeld wichtig, denn für sie ist die Trauer um den Tod eines Kindes eine dunkle und zutiefst schmerzliche Zeit. Das auszuhalten und zu ertragen, erfordert äusserste Kraftanstrengung.

Trauernde, Traurige, Verzweifelte erleben sich oft wie auf Wüstenwegen. Der Verlust – der Tod des vertrauten, geliebten Menschen – der Tod eines Kindes – hat aus einer bewachsenen, blühenden Landschaft eine Wüste werden lassen. Und dort nun – in dieser unbekannten, unwirtlichen Gegend – in der Wüste – müssen sie einen Weg finden.

Durch Wüste zu gehen, macht Angst. So viel Angst, dass man einfach nur fliehen möchte. Und doch tut es not, diesen Weg durch die Wüste zu gehen, weil wir nur so das Gewesene wahrnehmen und neues Leben entdecken können.

Wüstenzeiten sind harte Zeiten. Sie bedeuten ein beständiges Suchen nach der verschütteten, verborgenen Lebensader. Gibt es sie überhaupt noch – diese Lebensader? Die Wüste lässt oft daran zweifeln, weil es kaum Zeichen von Leben gibt und das Vertraute fehlt.

Wie soll ich leben ohne mein Kind? – Ohne meine Schwester? – Ohne meinen Bruder? Was ist das für ein Leben? Wo blühendes, wachsendes Leben war, spüre ich plötzlich Leere. Das Leben wird zur Wüste.

Durch diese Wüste einen Weg zu finden, kostet unendlich viel Kraft. Es ist härteste Arbeit. Es braucht enorme Anstrengungen, gegen Sand und Wind, gegen Durst und Erschöpfung, zu kämpfen und den Weg zur nächsten Zisterne zurückzulegen. Die brütende, lähmende Hitze am Tag, die klirrende Kälte der Nacht, das Gefühl der ohnmächtigen Winzigkeit inmitten einer grenzenlosen Weite kosten Kraft und führen nicht selten an die Grenzen dessen, was möglich ist. Inmitten der Not und der Entsagung werden jeder Tropfen Wasser, jeder kleine Schattenfleck kostbar.

Manche sagen: “Die Wüste lebt.”, aber das dringt kaum in das Bewusstsein derer durch, die am Anfang ihrer Wüste stehen. Es braucht Zeit, dafür ein Gespür und einen Sinn zu bekommen. Es braucht Zeit, um sich in der Wüste zurecht zu finden und sie als einen Ort des Lebens – als einen Ort des verborgenen, unscheinbaren Lebens zu entdecken.

Ich möchte uns dazu eine kleine Geschichte erzählen, die davon auf ihre Weise etwas zum Ausdruck bringt:

Ein Fluss wollte durch die Wüste zum Meer. Aber als er den unermesslichen Sand sah, wurde ihm Angst, und er klagte: “Die Wüste wird mich austrocknen, und der heisse Atem der Sonne wird mich vernichten.” Da hörte er eine Stimme, die sagte: “Vertraue dich der Wüste an.” Aber der Fluss entgegnete: “Bin ich dann noch ich selber? Verliere ich mich nicht?” Die Stimme antwortete: “Nein, du wirst dich nicht verlieren.”
So vertraute sich der Fluss der Wüste an. Wolken sogen ihn auf und trugen ihn über die heissen Sandflächen. Als Regen wurde er am anderen Ende der Wüste wieder abgesetzt. Und aus den Wolken floss ein Fluss – der Fluss, neu und verändert und doch zugleich auch der gleiche.
(nach Gerhard Eberts, gefunden in: Elsbeth Bihler, Symbole des Lebens – Symbole des Glaubens II, Limburg 1998, 16)

Trauer – die Trauer um ein verstorbenes Kind – ist wie der Weg des Flusses durch die Wüste. Der Fluss hat Angst – grosse Angst. Er klagt und zaudert. Die Angst, sich ganz und gar zu verlieren, ist übermächtig.

Der Fluss braucht Zuspruch, um sich auf das Wagnis seines Weges einzulassen. Auf diesem Weg verändert und verwandelt er sich, und doch bleibt er auch er selbst. Eine schwer vorstellbare Erfahrung: wie soll das gehen? Ich glaube, diese Erfahrung erschliesst sich erst im Erleben. Sie ist mit Worten nicht wirklich zu beschreiben und verständlich zu machen. Ein klein wenig vermag vielleicht die Geschichte davon anzudeuten.

So wie der Fluss Zuspruch und Ermutigung braucht, so brauchen gerade auch trauernde Familien Zuspruch und Begleitung. Auf den Wüstenwegen durch die Trauer ist es unendlich wichtig, Momente des Trostes zu erleben: Eine entgegen gestreckte Hand, eine Umarmung, ein freundliches Wort, die Ermutigung, zu erzählen, ein verständnisvoller Blick können solche tröstlichen Momente sein. Sie sind Lebenszeichen in der Wüste und helfen, den schweren Weg zu gehen.

Die Flussgeschichte erzählt, dass der Fluss sich am Ende der Wüste wiederfindet – neu findet und dass er Leben findet.

Leben finden – Hoffnung auf Leben entdecken: Als betroffene Schwester weiss ich, dass das für viele trauernde Mütter und Väter, für trauernde Brüder, Schwestern und Familienangehörige häufig etwas Schweres, etwas Unwirkliches ist. Im Wissen darum möchte ich mit ein paar Sätzen von meiner Hoffnung erzählen.

Ich vertraue darauf, dass es Gott gibt – dass er da ist, wenn ER mir auch oft unendlich fern scheint.
Und ich vertraue darauf, dass Gott stärker ist als der Tod. Ich glaube, dass er Leben schenkt – Leben auch jenseits des Todes. Es gibt Erfahrungen, die mich in diesem Glauben bestärken; und es gibt Worte, die diesem Vertrauen einen Grund geben. Ein biblischer Vers, der mich hier besonders anrührt und stärkt, steht beim Propheten Jesaja: “Wie ich strömenden Regen über verdurstendes Land ausgiesse, so giesse ich meinen Lebensgeist über dich aus.” Amen.

Hiob, warum läßt Gott zu, daß es mir so schlecht geht?

Aus „Mit Menschen der Bibel Lebenskrisen überwinden
– zum Beispiel Hiob“

Wolfgang Hohensee

DHiober Mensch ist versucht oder besser gesagt, er ist geradezu gezwungen, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid zu finden. Dabei bedient er sich einer Vielzahl möglicher Antworten, die ihm gleichsam als rettender Strohhalm dienen sollen.

Ich kenne ein Elternpaar, das ihr vierjähriges Kind auf tragische Weise durch einen Verkehrsunfall verlor. Eine »fromme Tante« des Kindes versuchte die Eltern mit der Antwort zu trösten, dass Gott die, die er liebt, zu sich holt. Für mich kann das keine Antwort sein, sondern nur der nach Hilfe schreiende Versuch, auf die Sinnlosigkeit dieses Leides dennoch eine Antwort zu geben.

Bei Hiob sind es die so genannten Freunde, die aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommen und versuchen. Antworten zu finden. Für den einen ist es vollkommen klar, dass Hiob Schuld auf sich geladen hat, denn Gott würde niemals einen Gerechten mit Leid überschütten. Der zweite will Hiob davon überzeugen, dass sich am Ende sicherlich alles zum Guten wenden wird. In die gleiche Richtung tendiert der dritte Freund, der das Leid als Geheimnis Gottes deutet, dessen Sinn sich eines Tages enthüllen wird. Auch der später auftretende Elihu loht die Erhabenheit Gottes und wirft Hiob damit indirekt vor, sich selbst zu erheben, denn wer ist der Mensch, dass er mit Gott zürnen oder ihn anklagen dürfe?

Die übereinstimmende Antwort der Freunde lautet, dass Gottes Ordnung nicht anzutasten ist. Gott belohnt die rechtschaffenen Menschen, aber die Bösen werden bestraft. Die Freunde, die Ernst Bloch als »vier Glaubensspießer« betitelt, meinen es zwar gut mit Hiob, aber er ist nicht wirklich durch ihre Worte getröstet. Auch wenn die Antworten der Freunde verschieden sind, so sind es dennoch schlichte Antworten, die vom gleichen Gottesbild geprägt sind. Übereinstimmend vertreten sie die traditionell-religiöse Antwort auf die Frage, warum Gott einen rechtschaffenen Mann wie Hiob so quält: »Gott vergilt dem Menschen, wie er verdient hat, und trifft einen jeden nach seinem Tun.» Dahinter steckt der Gedanke, dass Leid immer eine göttliche Strafe für begangene Schuld bedeutet. Wo immer ein Mensch leidet, ist das die Folge menschlicher Schuld. Diesem Erklärungsmuster folgen bis heute viele Menschen, denn immer wieder ist zu hören, dass Menschen im Leid fragen: »Was habe ich denn falsch gemacht?« Doch was für  ein Glaube ist das? Welchen Fehler haben Menschen begangen, die in der Sahel Zone oder in den SIums von Rio de Janeiro tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen? Welche Schuld soll ein Kleinkind auf sich geladen haben, das an einer schweren Krankheit stirbt? Unter echter Anteilnahme von Freunden verstehe ich, einem leidenden Menschen durch Nahebringen und Zuspruch von Gottes Eigenschaften zu rechter Selbsterkenntnis zu helfen, anstatt ihn mit falschen Gottesbildern zu falschen Selbsteinsichten zu führen.

Hiobs Freunde halten an ihrem Gottesbild (mehr zum Begriff Gottesbild) fest und immer wieder muss er seine Unschuld beteuern. Es sind oft die falschen Freunde, die einen Menschen im Leid mit schnellen Erklärungsversuchen zu trösten versuchen. Dies ist aber kein echter Tost, sondern eine Vertröstung. Hiob kann und will die Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit des Leides nicht aushalten. Er merkt dabei nicht, dass er sich nach dem gleichen Muster vom gerechten Zusammenhang von Tun und Ergehen verhält: Wenn Hiob sich unschuldig fühlt, so muss im Umkehrschluss Gott an dem Leid schuld sein. Hiob möchte Gottes Handeln verstehen, aber er kann es nicht. Die Freunde haben keine befriedigende Antwort und deshalb lässt Hiob nicht locker und schleudert Gott selbst seine Fragen an den Kopf:

Bin ich gewandelt in Falschheit, oder ist mein Fuß geeilt
zum Betrug?… Ist mein Gang gewichen vom Wege und
mein Herz meinen Augen nachgefolgt und blieb etwas
hängen an meinen Händen?… Hat sich mein Herz betören
lassen um eines Weibes willen und hab ich an meines
Nächsten Tür gelauert?… Hab ich missachtet das Recht
meines Knechts oder meiner Magd, wenn sie eine Sache
wider mich hatten?
Hiob 31,5.7.9.13

Immer wieder beteuert Hiob seine Unschuld: »An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht; mein Gewissen

Also warum wollte Gott den Tod der Menschen am 11. September? Warum wollte er den Tod der 71 Menschen bei der Kollision zweier Flugzeuge? Warum der Tod eines Kindes? Wenn nach christlicher Schöpfungstheologie Gott in allem wirkt, so muss er doch auch in den Katastrophen wirken, so denken und fragen viele Menschen.

Diese Theodizeefrage, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der grausamen Weltwirklichkeit, führt aber nicht weiter. Sie bleibt unbeantwortet und deshalb ist nach 1945 der Satz gefallen, dass man nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben könne, gerade weil er nicht eingegriffen habe. Gott schweigt und weitere Katastrophen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Brände, Flugzeugabstürze und Morde werden geschehen. Gott wird durch unser Fragen nach dem Warum mit einer falschen Wirklichkeit verbunden. Wenn Gott in einen kausalen Zusammenhang mit all dem Leid gestellt wird, dann können die Antworten nur in die Irre führen. Gott ist weder mächtig noch ohnmächtig, sondern er ist, wie er ist, und was Hiob mitgeteilt wird, setzt den Menschen herab und ordnet ihn neben die unfassbare Natur.

Aber dennoch spricht Gott mit Hiob und damit zu uns Menschen von heute. Gott vertröstet nicht, sondern korrigiert und bleibt in Gemeinschaft mit Hiob. Gott hatte auch andere Fragen an ihn richten können, denn wenn wir im Nachdenken über das Leid von der menschlichen Abwendung von Gott ausgehen, so müssen wir feststellen, dass Gott den Menschen zum Leben und nicht zum Tode geschaffen hat. Der Mensch ist es, der dem Menschen Leid zufügt. «Homo homini lupus«, heißt es in einem lateinischen Sprichwort, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Gemeint ist, dass der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch selbst ist. Dann lautet die Frage nicht mehr, wie Gott das Leid zulassen kann, sondern wie die Geduld Gottes zu rechtfertigen ist, mit der er den friedlosen Menschen noch immer Raum, Zeit und Kraft gibt, ihr Unwesen zu treiben.

Hiob zeigt sich von Gottes Antwort tief beeindruckt. Indem er erfährt, dass Gottes Horizonte größer sind als die der Menschen, legt sich sein Ärger und er bekennt, selbst zu gering zu sein, um auf die Erhabenheit Gottes antworten zu können. Hiob gibt Gott schließlich Recht. Er wendet seinen Blick von sich weg und erlebt Gott in neuer Weise:

Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen;
aber nun hat mein Auge dich gesehen.
Hiob 42,5

Dieses Bekenntnis ist nicht als Niederlage zu verstehen, sondern es ist die überwältigende Erfahrung der Nähe Gottes. Auch wenn die Antwort Gottes nicht der Frage Hiobs entspricht, so ist sie dennoch eine Antwort. Gott hat zu Hiob gesprochen und ist aus seinem Schweigen herausgetreten.

Hiob erkennt die Unverfügbarkeit des menschlichen Daseins an. Sowohl in der Ordnung als auch in der letzten Undurchschaubarkeit ist Gottes Gegenwart zu finden. Hiob lässt sich ganz neu ohne Voraussetzungen und Bedingungen auf Gott ein. Gott ist weder ein Gott der Strafe noch ein Gott des Schutzes, sondern Gott ist ein Gott, der frei ist.

Den weisheitlichen Traditionen entspricht es, dass die Spuren in Gottes Walten in der Schöpfung zu finden sind. An Hiob ist abzulesen, wie Gott in seiner unergründlichen Weisheit handelt, ohne dass der Mensch dieses Handeln erkennen, berechnen oder manipulieren kann. Hiob soil erkennen, dass er auch im Leid auf Gottes Gegenwart und Führung vertrauen darf.

Wie immer hat jeder selbst die Wahl, wofür er sich entscheidet: Leid oder Chance? Das Ziel bleibt dasselbe! Hiob hat sich für die Chance entschieden, indem er alte Gottesbilder über den Haufen warf. Darin ist er für mich zum Mut machenden Vorbild geworden. Ich brauche die Erfahrung, dass es geht, dass es nie ein »Zu Spät« gibt. Krisen – egal wie tief sie uns führen – bergen Veränderungen in sich, die mich dazu führen können, zu wachsen und glücklich zu werden. Der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Franki, sagte: »Es gibt kein menschliches Wesen, das nicht mit Leid, Tod und Schuld konfrontiert wird – einmal als Opfer, einmal als Täter!« Wäre es nicht an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und die Stärke zu wählen, sich nicht vor Krisen zu drücken, sondern Lösungsmöglichkeiten zu suchen? Oie Krise lässt uns die Trostlosigkeit erblicken, aber ich selbst entscheide, ob ich um mich schlage und den Halt verliere oder ob ich mich dem Neuen, das auf mich zukommt, stelle. Ich möchte neue Schritte wagen, bereit sein, auch schmerzliche Veränderungen in Kauf zu nehmen.

An der Hioberzählung erkenne ich, dass der Mensch trotz seines Leids zu einem größeren Ganzen finden kann. Hiob sucht eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Leid. Nur die Liebe vermag die Sinnlosigkeit von Leid in Frage zu stellen. Hiob findet zu dieser Liebe zurück, indem er die Frage nach dem Leid zu der Frage nach dem Sinn des Lebens verändert. Für Leo Tolstoi, der in eine Lebenskrise geraten war, keimte neue Hoffnung in seiner Verzweiflung auf, als er eines Tages allein durch den Wald ging. Er beschreibt, wie er begonnen habe, über sein Leben und über das nachzudenken, was größer war als sein Leben, aber noch unentdeckt. Das Fehlen dieses größeren Elements war die Quelle seiner Verzweiflung. Inmitten der Natur des Waldes suchte er in sich selbst nach diesem Gefühl für etwas Größeres. Nach dieser Erfahrung schrieb Tolstoi: »Die Dinge in mir und um mich herum wurden klarer denn je, und das Licht ist nie wieder erloschen. Wie es zur Veränderung kam, kann ich nicht sagen. So unfühlbar und allmählich, wie die Lebenskraft in mir erstorben war und ich mein moralisches Sterbebett erreicht hatte, so allmählich und unmerklich kam die Lebensenergie zurück.«

Vielleicht ist diese Erfahrung ähnlich wie bei Hiob, der Gott in ganz neuer Weise erleben durfte. Gott war plötzlich mit den inneren Augen sichtbar. Gott war das Leben selbst, und es war Hiob plötzlich ganz nähe. Immer wieder können wir am Beispiel anderer Menschen ablesen, dass die Krisen zu- gleich die großen Lehrmeister sind, die helfen, uns selbst als Teil des Ganzen zu verstehen, uns selbst in unseren noch so schweren Momenten nicht immer als Mittelpunkt zu sehen. Paul Tillich nennt dies den »Mut, Teil zu sein«, und meint da- mit: sich selbst trotz der vielen erlebten Unterdrückungen, Abwertungen und Vernachlässigungen als wichtigen Teil eines lebenden Organismus zu begreifen, einen Teil, auf den es ankommt.

Predigt aus dem Gottesdienst Zwischenhalt „Abschiednehmen“

vom 19.11.2006 St. Paulus (Buchholz i.d.N.)

Abschiednehmen06
Pastorin Bürig

von Pastorin Christiane Bürig

Liebe Gemeinde,

das Leben besteht aus Abschieden. Ich denke zunächst an die vielen kleinen Abschiede im Alltag. Wie oft sagen wir Tschüß! Oder: bis Morgen!

Und es gehört auch mancher endgültige Abschied dazu, ich denke jetzt noch gar nicht an den Tod. Auch das Leben bringt endgültige Abschiede: Trennungen von Paaren, Freundschaften, die im Sande verlaufen, Nachbarn, die wegziehen. Für viele der älteren Generation der Abschied von der Heimat und ihren vielen Gesichtern durch die Flucht.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Irgendwann ist es das erste Mal der Tod eines nahen Menschen.Irgendwann ist da unser eigener Tod, Abschied vom Leben auf diesem wunderschönen Planeten mit den Tautropfen auf dem Gras, dem Baumrauschen und den Menschen, die wir lieben.

Das Leben besteht aus Abschieden.

Pastorin Christiane Bürig

Daß der endgültige Abschied Tod in unserer Gesellschaft weggeschoben und an den Rand gedrängt wird, ist ein Phänomen, das oft besprochen wurde. Bestatter fahren in grauen Wagen, wir sprechen von „entschlafen“ oder „eingeschlafen“, gestorben wird im Krankenhaus, oft auch, wenn es die Situation überhaupt nicht erfordert hätte. Die Medizin hat den Tod soweit hinausgeschoben wie möglich, so weit, daß einem Angst und Bange werden kann und wir mit Patientenverfügungen reagieren. Die sollen sicherstellen, daß wir irgendwann dann auch mal sterben dürfen.

Der endgültige Abschied Tod wird an den Rand gedrängt. Wir sehen es auch daran, wie unsere Rituale um Sterben und Tod verdorrt sind. Die Bestattung im engsten Kreise – selbst da wo ein Verstorbener mitten im Leben stand… sollen Nachbarn, Freundeskreis, Kollegen keinen Abschied nehmen dürfen?

Die anonyme Bestattung – wir leben doch auch mit einem Namen, warum dürfen wir nicht mit einem Namen sterben? Angehörige, Bekannte werden des Ortes beraubt, an dem sie weinen, Zwiesprache halten oder einfach sich besinnen können.

Oder die Tatsache, daß viele Familien ihre Kinder nicht mit zur Beerdigung nehmen, obwohl die es gerne würden – noch nicht einmal zum Abschied von Großeltern, die sie doch lieb hatten. Auch ein Kind hat eine Recht aufs Abschiednehmen.

Der Tod verdrängt – wir sehen es auch daran, wieviel Wissen über Trauerprozesse verloren gegangen ist.

Wieviele Witwen haben mir erzählt, daß sie ihren Mann als anwesend fühlen, nicht sichtbar, aber wahrnehmbar anwesend in der Wohnung, wie ein Schatten jenseits des Blickfeldes – und jede dachte, jetzt wird sie verrückt. Dabei scheinen solche Erfahrungen zum Trauern dazu zu gehören. Oder daß wir immer vom „Trauerjahr“ sprechen, als sei es dann geschafft. Dabei scheinen Trauerwege eher eine Art Spirale zu sein, wo man immer wieder an die gleichen Punkte kommt: Weihnachten, Hochzeitstag, nach Jahren noch die gleiche Traurigkeit, nur daß sie im Laufe der Zeit schneller zu bewältigen ist.

Oder daß wir immernoch vom „loslassen“ reden. Niemand kann einen geliebten verstorbenen Menschen loslassen. Es muß sich nur die Art der Beziehung ändern zu einer verinnerlichten Form des Kontakts.

Der Tod verdrängt – wieviel Unsicherhiet das mitsichbringt: wie sollen wir Trauernden begegnen? Wie sollen wir Sterbenden begegnen? Aus Angst vor unseren Gefühlen, treten wir die Flucht an.

Uns fehlt eine Kultur des Sterbens und des Trauerns. Das Wissen früherer Zeiten ist verloren gegangen. Ein neues, in unserer Zeit passendes Wissen muß erst noch entwickelt werden.

Solange wir auf der Flucht sind, vergrößern wir das Leid. Das Leid der Betroffenen, und unser eigenes.

Eines müssen wir uns dabei klar machen: Es wird so tausend- und abertausendfach gestorben auf der Welt. Gewalt ist im Spiel und Hunger und Verwahrlosung, ungerechte Strukturen, verseuchtes Trinkwasser und Krieg… wie oft ist da überhaupt keine Gelegenheit, mal eine Hand zu halten. Wir haben zur Zeit in unserer Gesellschaft das große Glück, daß die Not nicht über uns zusammenbricht, sondern daß Spielraum da ist, daß wir die Möglichkeit haben, uns um Sterbeprozesse zu kümmern…Wir sollten diese historisch und global betrachtet glückliche Lage nutzen und es für die sterbenden Menschen gut machen!

Wie das aussehen kann – dafür hat die Hospizbewegung zwei zentrale Antworten. Denn was ist die größte Angst, wenn wir an unser Sterben denken?

Daß wir Schmerzen leiden müssen. Die Medizin kann Schmerzen inzwischen sehr, sehr gut und auf den Patienten zugeschnitten verhindern. Auf dieses Thema wurde sie von der Hospizbewegung angesetzt und hat große Erfolge erzielt.

Die zweitgrößte Angst ist: Einsam zu sterben. Auch darauf hat die Hospizbewegung eine Antwort, wenn entweder Sterbende Zuhause von ehrenamtlichen Sterbebegleitern aufgesucht werden oder wenn sterbenden Menschen in einem Hospiz begleitet werden.

Für mich ist die Hospizbewegung schon eine Antwort auf die Tabuisierung des Todes in der Gesellschaft und eine Trendwende.

Wir fangen an, wieder dahin zu schauen.

Ein Hospiz ist mehr als ein Ort zum Sterben. Es ist ein Zentrum, das sein Wissen und seine Erfahrungen ausstrahlt. Die Angehörigen, deren sterbender Mensch im Hospiz lebt, werden zugleich entlastet – was die Pflege angeht – und herangeführt – was die Begleitung angeht. Ein Lern – und Erfahrungszentrum zum Thema Abschied nehmen. Nach und nach können immer mehr Menschen von der Tabuisierung und Überforderung zu einer Kultur des Sterbens und des Trauerns finden. Zu einer Kultur des Abschieds.

Und indem wir tiefer dahineinschauen, stellen wir plötzlich fest: Indem wir mehr über den Tod und den Abschied und das Trauern lernen, lernen wir mehr über das Leben!

Am besten kann ich das an einer eigenen Erfahrung zeigen. Der Tod gehört nämlich immer mit in  mein Leben. Mein Vater starb relativ früh – und in meinem Beruf geht es ja jede Woche um Trauern und Abschied. Und ich dachte eine ganze Zeit, daß ich damit ganz gut versöhnt sei. Bis ich einen 34-Jährigen zu beerdigen hatte. Und ich war da gerade 34. Das war etwas anderes. Und ich dachte: O.K., jeden Tag, den ich ab jetzt habe, habe ich mehr als er. Was mache ich denn damit? Und plötzlich war mir klar: Tod und Leben gehören zusammen, nicht nur so, daß der Tod eben das Leben begrenzt, sondern so, daß er es intensiviert, Vertieft. Überhaupt als wertschätzendes Leben ermöglicht.

Erst wenn ich die Grenze anerkenne und fühle, kann ich fragen, was innerhalb dieser Grenzen geschehen soll. Qualität des Lebens! Und dann auch des Sterbeprozesses. Vielleicht gerät die Frage nach der Länge des Lebens sogar in den Hintergrund angesichts der Frage nach der Qualität. Im Hospiz jedenfalls geht es nur noch um diese Qualität. Leben ganz im Jetzt, wo man über die Zukunft und die Länge nichts Hoffnungsvolles mehr sagen kann.

Insofern ist das Hospiz nicht nur ein Modell für das Sterben, sondern auch ein Modell für das Leben. Intensiv. Im Jetzt. Ehrlich. Verbunden mit den Gefühlen.

Das Leben besteht aus Abschieden. Trotzdem den Tod verdrängen? Das hat sich nicht bewährt. Weder für Sterbende, noch für Trauernde. Noch für das Leben mit seiner Qualität selbst. So fangen viele Menschen langsam wieder an, sich den Gefühlen zu stellen. Und machen die Entdeckung, daß das Hinschauen, das Nichtfliehen, daß das bereichert.

Wie in unserer Geschichte. Nur wenn wir die Traurigkeit, den Schmerz wirklich fühlen, geht es weiter. Das hilft. Das verbindet mit anderen. Das vertieft. Das läßt uns das Leben wertschätzen. Nur durch die Traurigkeit, den Schmerz hindurch geht es weiter, nicht daran vorbei. Es ist wie wenn wir durch die Traurigkeit hindurchtauchen, oder wie wenn wir den Schmerz austrinken… Der Traurigkeit ins Auge schauen – dann entsteht neue Hoffnung. Dann entsteht neue Daseinsfreude. Dann entsteht Qualität im Leben.

Das Leben besteht aus Abschieden. Was über diese Gedanken vom Glauben her hinaus noch zum Thema Abschied zu sagen ist, bringt das nächste Lied wunderbar zum Ausdruck, wie ich finde.