Trauern hat seine Zeit

Abschiedsrituale beim frühen Tod eines Kindes

Von Michaela Nijs

Auszüge zusammengstellt von Pirko Silke Lehmitz

1.Ritual, Definition und Wirkung

 a) Definition für ein RitualNijs
Die amerikanische Psychotherapeutin T. Rando definiert ein Ritual als ein spezifisches Verhalten oder eine spezifische Handlung , die bestimmten Gefühlen und Gedanken des/der Vollziehenden als Einzelner oder als Gruppe symbolischen Ausdruck verleiht. Das Hinaus-Setzen von emotionalen Erlebnisinhalten kann für einen Trauernden befreiend wirken, insbesondere, wenn der Tod eines geliebten Menschen mit traumatischen Erfahrungen verbunden war. Oft fehlen die Worte, um den Schmerz mitzuteilen; dann können Symbole und symbolische Handlung helfen, ohne Worte ein Brücke zu anderen Menschen zu schlagen. Rando weist in ihrer Definition auf ein weiters Charakteristikum von Ritualen hin: sie können einmal stattfinden, wie zum Beispiel eine Beerdigung, sie können jedoch auch wiederholt werden oder über eine gewisse Zeit fortlaufen vollzogen werden. Dies zeigt die vielfältigen möglichen Variationen von Ritualen.

    b) Gebrauch des Begriffes Ritual in diesem Buch
Ein Abschiedsritual ist eine bewußt vorbereitete und vollzogene symbolische Handlung, die Gefühle und Gedanken des Trauernden ausdrückt. Diese Handlung ist individuell gestaltet, ihr Inhalt wird geprägt durch die Bedürfnisse und Überzeugungen des trauernden Menschen. Elemente aus überlieferten Ritualen können enthalten sein, eine symbolische Handlung kann auch ohne Anlehnung an Traditionen gestaltet werden. Bei der Vorbereitung und dem Vollzug des Abschiedsrituals dient keine Suggestion oder Manipulation durch andere Menschen statt, das Ritual wird in Freiheit vollzogen. Es kann ein einmaliges Geschehen sein, es kann in derselben Form mehrmals wiederholt werden oder ein fortlaufenden Charakter haben. Die symbolische Handlung ist herausgehoben aus der Routine des Alltags und kann mit Erfahrungen des Außer-Gewöhnlichen verbunden sein. Ein Ritual spricht den ganzen Menschen an, indem es die Aktivität von Körper, Seele und Geist fördert. Ein Ritual wirkt auf verschiedenen ebenen interaktiv. Der Vollzug einer symbolischen Handlung kann eine heilende Wirkung für den Vollziehenden haben.

    c) Rituale als Orientierungshilfe
Wenn ein trauernder Mensch vor dem Vollzug eines Abschiedsrituals ein Ziel beschreibe kann, das er unter andrem auch mit Hilfe des Rituals erreichen möchte, kann dieses Ziel eine Orientierung in schwierigen Zeiten bieten. Klare Ziele für Rituale bedeuten nicht, daß quantitativ erfaßbare Leistungen als eine Zieldefinition dienen. Es geht um eine generelle Wegrichtung, nicht um Stationen, die erreicht werden sollen. Eine Mutter kann sich zum Beispiel entscheiden, daran zu arbeiten, wie sie das Gedenken an ihr gestorbenes Kind mehr in ihr Leben integrieren kann. Diese Mutter hat ein klares Ziel: sie möchte ihre Erfahrungen mit dem Leben einbeziehen. Dieses Ziel läßt jedoch offen, welche Wege und Um-Wege gewählt werden und wie die Wegstationen aussehen werden. Das Ziel gibt Orientierung, und gleichzeitig läßt es den Menschen in seinen Entscheidungen frei. Zu diesem frei-lassenden Element der Rituale kommt noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu: die Kreativität, das schöpferische Gestalten. Gerade bei den Abschieds-Ritualen, die im vorliegenden Buch dargestellt werden, ist das kreative Element sehr wichtig. Wählt eine Mutter zum Beispiel den fortlaufenden Brief an ihr verstorbenes Kind als seinen möglichen Weg zur besseren Integration ihrer Erfahrungen, dann wird sie nicht jeweils zu Beginn des Schreibens genau definieren, was sie schreiben will. Da das Scheiben ein kreativer Prozeß? Ist, wird sie möglicherweise Gefühle verbalisieren, die ihr vorher nicht bewußte waren, oder sie Zusammenhänge zwischen früheren Erlebnissen und gegenwärtigen Situationen erkennen, die sie auf einer Intellektuellen Ebene vorher nicht hatte sehen können. Sich dem Fluß des Schreibens anzuvertrauen, ohne dabei die Kontrolle durch das Ich zu verlieren – das ist schöpferische Gestaltung von Abschiedshandlungen.

    d)Heilende Wirkung
Beim Vollzug eines Rituals erfolgt ein Rückbezug auf das, was nährt und heilt. Diese Nährende verstehe ich im übertragenden Sinn als eine Quelle der Lebenskraft, vielleicht auch als einen imaginativen Ort, an dem ein Mensch sich rückbesinnen kann auf seine wahren Lebensimpulse. Die Annahme dieser kraftspendenen und damit heilenden Wirkung von Ritualen gehört zu den Grundlagen des vorliegenden Buches.
Die amerikanische Psychotherapeutin Achterberg beschreibt die Wirkungen, die Rituale für den einzelnen und für die Gemeinschaft haben können: „Rituale dienen als Wegweiser und Verhaltensmaßstäbe in Krisenzeiten, wenn Körper, Geist oder Seele angegriffen sind. Der Akt des Rituals ermöglicht es den Menschen, Erfahrungen miteinander zu teilen und einander sichtbar zu unterstützend. „Die wesentliche psychologische Wirkung des Rituals liegt darin, daß es Menschen durch schwierige Zeiten geleitet, Sterbend, Schwerkranke, Menschen in emotionalen Krisen. Das Ritual liefert eine Landkarte für das unsichtbare, unbekannte und nicht vermessen Territorium, das sie durchschreiten“.
Als weitere Wirkungen von Ritualen nennt Achterberg die Minderung des Gefühls der Entfremdung von der eigenen Gemeinschaft und die Verminderung von Depressionen und Angst. Die Aufhellung von Depressionen hängt damit zusammen, daß im Ritual die eigene Aktivität des Menschen gefordert ist. Gelingt der Schritt, die Impulse aus dem Denken in eine Handlunge umzusetzen, dann ist der Teufelskreis der depressiven Lähmung durchbrochen.
Ein Mensch kann Hoffnung in einer Krisenzeit erleben, wenn er spürt, daß er sein Hier und Jetzt gestalten kann. Genau diese Gestaltung des „hic et nunc“ geschieht im Ritual, der Fokus der Aufmerksamkeit ist auf die Gegenwart gerichtet. Das mach dem Trauernden Mut, daß er auch in Zukunft in der Lage sein wird, sein Leben zu ergreifen.

    e) Auseinandersetzung im Tun
Es gibt zwei wichtige Elemente einer symbolischen Handlung. Das erste Element ist die Erfahrung, daß die Auseinandersetzung im Tun geschieht. Der aktive Prozeß des Ergreifens hilft, die Realität des Todes anzuerkennen und so einen ersten Schritt zu Integration zu leisten. Das zweite Element ist das Bemühen, die eigenen Erfahrungen in ein Form zu bringen. In einem schöpferischen Prozeß entsteht etwas Sichtbares. Inneres kann zu einer äußeren Gestalt werden, kann ausgedrückt werden.

2.„Mementoes“: Erinnerungsstücke

Wenn ein Erwachsener oder ein älteres Kind sterben, gibt es viele besondere Gegenstände, die mit Erinnerungen an den Verstorbenen verbunden sind. Ganz anders ist die Situation, wenn ein Kind tot zur Welt kommt, oder um die Geburt herum stirbt. Dann haben die Eltern und die Geschwister oft nur sehr wenige „mementoes“. Manche Familien haben keinen einzigen Gegenstand, der sie an das gestorbene Kind erinnert.

    a) „Mementoes“ als Begleiter in der Trauer
„Mementoes“ können auch Gegenstände sein, die mit positiven Erfahrungen während der Trauerprozesses verbunden sind. Manchmal sind es Geschenke von Menschen, die die Eltern unterstützt haben. Gerade in Krisenzeiten können solche Übergangsobjekte stabilisierend wirken.

    b) Neu geschaffene „Mementoes“
„Mementoes“ müssen nicht Gegenstände sein, die schon im Besitz der Eltern waren, als das Kind starb. Es können ebenso Dinge sein, die nach dem Tod des Kindes geschaffen und gestaltet wurden. Gerade Eltern, die kaum Gegenstände habe, die sie an eine gemeinsame Zeit mit dem Kind erinnern, erleben es oft als sehr hilfreich, wenn sie selbst etwas gestalten können, oder wenn sie nach Symbolen und Bildern für ihre Erfahrungen suchen können.

    c) Kerze als Symbol des Gedenkens
Die Kerze ist ein Symbol, das die Menschheit schon sehr lange bei Feiern und besonderen Anlässen verwendet. In der christlichen Tradition steht die Kerze in einem engen Zusammenhang mit Weihnachten und Ostern. Aber auch für viele Menschen, die keine Beziehung zur christlichen Überlieferung haben, ist das Anzünden einer Kerze eine wichtige symbolische Handlung, diene besondere, außergewöhnliche Zeit markiert. Kerzen bringen Wärme und Geborgenheit, die Flamme wird auch als ein Symbol der Liebe gesehen.

Ein Vorschlag als ein Symbol für die Verwendung von Kerzen in einem Ritual wäre es, eine Kerze während der Geburt eines toten Kindes brennen zu lassen und diese Kerze den Eltern dann zu schenken. Hier kann man das Licht verstehen im Sinne einer Begleitung schon während der Geburt, eines Empfangens des toten Kindes mit Kerzenlicht auf dieser Welt und einer besonderen Kerze, die die Eltern durch ihre Trauerzeit begleiten kann. Dieser Vorschlag ist inzwischen von einigen Hebammen aufgriffen worden. Sie erzählten, daß sie positive Rückmeldungen von Eltern bekommen hätten, denen sie eine Kerze mit nach Hause gegeben hatten.  Sie berichteten auch, daß sie selbst gespürt hätten, wie sich die Atmosphäre im Kreißsaal verändert, wenn eine Kerze brennt.

    d)Das Fehlen von gemeinsamen Erinnerungen
Gerade in bezug auf die soziale Interaktion wird deutlich, daß die Situation nach dem perinatalen Tod eines Kindes ein ganz andre ist als die nach dem Tod eines Erwachsenen. Wenn ein Kind um die Geburt herum stirbt, gibt es beinahe keine gemeinsamen Erinnerungen, die die Eltern mit Freunden und Verwandten teilen können. Eltern eines früh gestorbenen Kinde können eben nicht sagen: „ Weißt du noch, wie unser Sohn zum erstem Mal gesessen hat?“ Solche geteilten und mitgeteilten Erinnerungen erleichtern den Trauerprozeß – und sie fehlen beim frühen Tod eines Kindes.

3.Jahrestage und andere wichtige Gedenktage

    a)Meilensteine auf dem Weg durch die Trauer
Jahrestage können ein Anlaß sein, auf das vergangene Jahr zurückzublicken, vielleicht auch auf die Zeit seit dem Tod des Kindes. Dieser Rückblick kann hilfreich sein, denn während des Durchlebens des Prozesses sehen die Eltern ihre Schritte in Richtung Heilung manchmal nicht. Dies können im Überblick viel deutlicher wahrgenommen werden.
Nicht nur der Todestag des Kindes, sondern auch andere Tage können für die Eltern die Funktion von Meilenstein den haben: der errechnete Geburtstermin; in folgenden Schwangerschaften die Schwangerschaftswoche, in der das Kind gestorben ist; der eigene Geburtstag, an dem die Eltern sich erinnern, daß das Kind fehlt; und viele ganz individuelle Tage.

b)Muttertag und Vatertag
Diese Tage können besonders für Eltern, die keine lebenden Kinder habe, schwierige und traurige Tage sein. Fragen der Identität der Eltern können in dieser Zeit besonders drängend werden. In einer Veröffentlichung einer amerikanischen Selbsthilfegruppe beschreibt eine Mutter ihre Gedanken zu diesen Gedenktagen: „ Verständlicherweise sind dies zwei Tage, die von unsrer Gesellschaft bestimmt worden sind, um den Status der Elternschaft zu ehren, wie das sprichwörtliche Salz in der unseren Wunde. Für diejenigen von uns, die keine überlebenden Kinder haben, bringen diese beiden Feiertage auch viele Fragen a die Oberfläche. Wird irgend jemand, anerkennen, daß wir Eltern sind? Werden wir uns selbst erlauben, anzuerkennen, daß wir Eltern sind? Sind wir Eltern? Natürlich sind wir es! Töchter und Söhne hören nicht auf, Töchter und Söhne zu sein, wenn ihre Eltern sterben. Wir sind Mütter und Väter, deren Kinder gestorben sind.“

4. Namensgebung

a) Anerkennung des Kindes als Individualität
Der Name eines Menschen steht in engem Zusammenhang mit der Anerkennung seiner Individualität, seiner Persönlichkeit. Die fragen nach der Identität und den Wesen eines Menschen sind häufig verbunden mit dem Namen, der er trägt. Wistinghausen beschreibt diese Beziehung zwischen dem Namen und dem Wesen eines Menschen folgendermaßen: “Der Name deutet nicht nur auf den Menschen, sondern er bedeutet den Menschen. Das persönliche Wesen Mensch lebt und webt geheimnisvoll in den Lauten des Namens und äußert sich in ihnen.“
Um ein Gegenüber persönlich ansprechen zu können, müssen wir seinen Namen kennen. In diesem Sinne kann der Name auch als eine Voraussetzung für Begegnung gesehen werden.
Es erscheint uns selbstverständlich, einem lebend geborenen Kind einen Namen zu geben. Die Frage nach dem Namen ist meist auch ein der ersten Fragen, die Eltern kurz nach der Geburt eines lebenden Kindes von Freunden und Verwandten gestellt werden.
Dieser selbstverständliche Umgang mit dem Namen geht verloren, wenn das Kind tot geboren wird oder kurze Zeit nach der Geburt stirbt. In dieser Situation werden Eltern nur selten gefragt, wie ihr Kind heißt. Dabei kann die Namengebung gerade beim frühen Tod eines Kindes für die Eltern und für alle anderen Beteiligten wichtig Signale setzen. Wenn Eltern einem totgeboren oder perinatal gestorbenen Kind einen Namen geben, machen sie damit deutlich, daß ein Mensch gestorben ist, daß es nicht um den Verlust eines Schwangerschafts-Produktes geht. Diese Anerkennung der Individualität des Kindes gehört wesentlich zu einem würdevollen Umgang mit früh gestorbenen Kindern. Fast alle Mütter, die in einer Untersuchung befragt wurden, hatten ihren verstorbenen Kindern einen Namen gegeben. Viele hatten jedoch diesen Namen noch nie einem anderen Menschen gegenüber ausgesprochen. Die selbstverständlich frage nach dem Namen kann den Eltern helfen, die Schwelle zu überwinden, zum ersten Mal den Namen ihres Kindes andren mitzuteilen.
Da die Eltern so wenige konkrete Erinnerungen an ihr Kind habe, kann die Namensgebung ihnen oft helfen, anzuerkennen, daß sie um einen konkreten Menschen trauern. Der Name kann auch zu einem Symbol für die Existenz des Kindes werden. Gerade bei mehrfachen Verlusten ist es sehr wichtig, zu differenzieren – die einzelnen Verluste zu benennen, um dann trauern zu können. Nachdem Frau S. den Namen ihres Sohnes ausgesprochen hatte, konnte sie um dieses Kind trauern. Es bekam eine Gestalt, während vorher alles wie in einem schwarzen Strudel vermischt gewesen war. Mit dem Mitteilen des Namens sind zwei Erfahrungen verbunden: das Kind bekommt eine Identität, durch diese Identität ist es nicht ersetzbar.

   b) “Endlich was in den Händen haben” – Zur Bedeutung von Dokumenten
Gerade wenn Eltern ihr totes Kind nicht gesehen haben, suchen sie oft nach “Mementoes”, die auf die auf die Existenz ihres Kindes hinweisen. In einer solchen Situation können formale Schriftstücke, die für Außenstehende sachlich und kühl wirken, eine wichtige Rolle spielen

Tod am Anfang des Lebens

aus “Wenn Mütter trauern” S. 121,122

Einerseits wollte ich das Kind loswerden, zum anderen doch noch so ein bißchen behalten. Noch so ein bißchen schwanger sein. Jetzt bin ich noch schwanger, dachte ich, wer weiß, ob ich jemals wieder schwanger werden kann. Und ich habe meine rechte Hand auf den Bauch gelegt und zu unserem Herrgott gesagt, er möge doch das Kind so annehmen, wie es ist. Das ist auch eine Form der Taufe, habe ich mir gedacht.WennMutter

Am nächsten Morgen, am Freitag, Punkt acht, stand der Kurt wieder an meinem Bett. Ich fragte ihn, wie er die Nacht verbracht hatte. Keine Antwort. Er wollte da überhaupt nicht drüber reden. Später erfuhr ich, daß er beim Pastor war und mit ihm gesprochen hatte.

Um 13 Uhr, an diesem 28. Juni 1985, setzten die Preßwehen ein. Das Kind ist ohne Dammschnitt gekommen, ganz sanft, es ist einfach so herausgerutscht. Sie haben das Mädchen in ein Tuch gewickelt, es uns gezeigt und mir in den Arm gelegt. Das war wie ein Erdbeben. So eine richtige Erschütterung. Es war so ein Aufschluchzen auch. Es ist geschafft. Das Kind ist draußen. Und du darfst weinen, du darfst um dieses Kind jetzt weinen.

Ich habe sie im Arm gehalten und an meine Frust gedrückt. Ich habe sie mir angeguckt, und sie hat ausgesehen wie der Bastian. Die Haare, die Gesichtsform, alles. Sie war groß und schwer, ein hübsches, süßes Kind. Und an dem Kind war alles dran.

Ich habe nur noch ihr Profil in Erinnerung: Die Augen geschlossen, die Unterlippe etwas vorgeschoben, beinahe ein wenig trotzig, so schien es. Immer wenn der Sebastian wütend ist und heult, dann hat er ganz genau denselben Ausdruck im Gesicht.

Und wieder mußte ich an meinen Traum denken: Dieses Traumkind hatte auch die Augen geschlossen. Ich konnte mit ihm nichts anfangen. Es war in einer anderen Welt. Nur eine Hülle hatte ich da in meinen Armen. Da war kein Geist drin.

Dieser Eindruck stand auch jetzt im Vordergrund: Hier kannst du nichts mehr machen. Da kommt kein Leben. Da kommt nichts, absolut keine Regung von diesem Kind. Das Kind ist tot.

Und irgendwie kam dann der Moment, wo eine Ärztin vor mir stand und auf das Kind wartete. Viola soil sie heißen, haben wir ihr gesagt.

Und dann habe ich sie ihr halt gegeben.

Kennenlernen und Abschied

aus der Broschüre Gute Hoffnung, jähes Ende von Hannah Lothrop

Entgegen landläufiger Meinung ist das Bestehen und die Entwicklung einer Bindung zum Baby die beste Voraussetzung für ein heilsames Abschiednehmen, ein Wieder-heil-werden-Können und die Fähigkeit, später neue Bindungen eingehen zu können. Deshalb ist es wichtig, daß der Prozeß der Bindung stattfindet, vollendet und nicht abrupt unterbrochen wird, selbst wenn das Baby tot ist oder stirbt.Gutehoffbrosch

Wir brauchen konkrete Erinnerungen an unser Kind. Dafür hat es sich als positiv erwiesen, unserem toten Baby wirklich begegnen zu können: es genau anzusehen, zu berühren, im Arm oder – wenn es noch sehr klein ist – in unseren Händen zu halten und es vielleicht, je nach Situation, auch zu baden und anzuziehen – die einzige Gelegenheit, die wir dazu je haben werden. Wir brauchen Zeit, die Einzigartigkeit dieses Kindes wirklich in uns aufzunehmen.

Das Loslassen-Lernen, was im Leben allmählich geschehen kann, uns aber wahrscheinlich nicht immer gelingt, müssen wir nun in kurzer Zeit und unter schwierigen Umständen leisten. Wir brauchen dabei jede nur erdenkliche Unterstützung.

Das Entstehen einer Bindung ermöglichen

In meinen Gesprächen sind mir keine Eltern begegnet, die im nachhinein wünschten, sie hätten ihr Kind nicht gesehen. Doch fast alle Eltern, die es nicht sahen, sprechen auch Jahre danach noch Bedauern darüber aus oder Wut auf das Pflegepersonal, das sie um diese Möglichkeit gebracht hat. Manche davon waren offensichtlich in der zweiten Stufe des Trauerprozesses steckengeblieben, spürten auch noch nach langer Zeit eine unstillbare Sehnsucht und Unruhe in sich. Es fiel ihnen schwer, mit dem Tod Frieden zu schließen und ihn anzunehmen.

Der Anblick unseres Kindes tut zuerst ungeheuer weh. Aber es ist dabei wie mit einer Wunde, die verätzt wird. Das tut zuerst auch mehr weh, aber sie heilt dann schneller und sauberer. Wenn Eltern zunächst nicht die Kraft oder den Mut haben, ihr Kind selbst zu sehen, sollte auf alle Falle jemand anderes in der Lage sein, ihnen später ihr Kind genau und liebevoll zu beschreiben, wenn sie dies wünschen oder zur Trauerverarbeitung sogar brauchen.

Der Anblick eines toten Babys

Neugeborene sehen oft so aus, als ob sie sich noch auf einem anderen Stern befanden, so ganz weit weg, in einer anderen Welt. Tote Babys sehen so aus, als ob sie von diesem Stern nie ganz bei uns angekommen sind.

Wenn Babys mit Fehlbildungen zur Welt kommen, stellt sich die Frage, ob die Eltern ihren Anblick verkraften können. Erfahrung hat gezeigt, daß die Realität nie so schlimm ist wie die Monsterfantasien, die Eltern entwickeln, wenn sie ihr Kind nicht sehen. Fehlbildungen werden oft nicht wahrgenommen oder stehen zumindest nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern Eltern verweilen bei dem, was an ihrem Kind schön und einzigartig ist. »Eltern sehen ihr Kind mit den Augen des Herzens und nicht aus der klinischen Sicht des medizinischen Betreuungspersonal« (Sr. Jane Marie Lämb).

Das medizinische Betreuungspersonal meint manchmal, daß »man ein totes Kind ein paar Stunden oder Tage danach nicht mehr anschauen könne«. Ein Bestatter hingegen äußerte mir gegenüber gerade, daß er Babys auch am dritten Tage noch zeige, und er meine, daß sich ihr Anblick sogar verbessere. Eltern konzentrierten sich sowieso auf das Wesentliche und würden etwaige Veränderungen nicht so sehr registrieren.

Wenn wir glauben, daß wir oder uns nahestehende Menschen unser Kind noch einmal sehen möchten, sollten wir dies dem Betreuungspersonal sagen. Ein totgeborenes oder nach der Geburt verstorbenes Baby kann in einem kühlen Raum im Untergeschoß des Krankenhauses aufgebahrt werden, wo auch andere Verstorbene liegen.

Wenn uns der Wunsch überfällt, unser Kind zu sehen, nachdem es bereits weggebracht worden ist, sollten wir mit dem Personal sprechen. Falls unser Kind untersucht werden soll, um die Todesursache festzustellen, kann es möglicherweise schon zur Pathologie gebracht worden sein. Es kann, zwar mit etwas Aufwand, gegebenenfalls von dort zurückgeholt werden, oder wir können den Bestatter bitten, es uns noch einmal sehen zu lassen. Es anzuschauen, wenn unser Hormonsystem sich einigermaßen normalisiert hat, kann uns helfen, die Endgültigkeit seines Todes noch besser zu realisieren, was uns in unserem Trauerprozeß weiterbringt.

Oft haben wir Angst, das auszusprechen, was wir uns im Innersten wünschen. Wir scheuen uns, Fragen zu stellen. Wir fürchten, daß unsere schlimmen Fantasien bestätigt werden. Wir mögen Hemmungen haben, im Schock gemachte Äußerungen zu widerrufen. Doch später ist es zu spät! Dies uns klar zu machen, gibt uns im Moment vielleicht die nötige Kraft.

Eine »richtige« Geburt

aus der Broschüre Gute Hoffnung, jähes Ende von Hannah Lothrop

Nur beim Feststellen einer Fehlgeburt im Anfangsstadium der Schwangerschaft wird der Arzt diese durch Ausschaben beenden wollen und können. Wenn unser Baby während der Schwangerschaft nach dem dritten Monat stirbt, steht uns in der Regel eine richtige Geburt bevor.

Etwas Totes im Leib zu haben, ist vielen unheimlich. Das Kind, das noch Stunden oder gar MinutGutehoffbroschen zuvor als Teil eines selbst geliebt wurde, wird nach Bekanntwerden seines Todes als Fremdkörper empfunden.

Besonders, wenn sich herausstellt, daß es schon seit einiger Zeit tot ist, haben Frauen Angst, dadurch vergiftet zu werden. Dem ist nicht so: Wenn ein Kind abstirbt, ist es wie bei einen Infarkt, wo auch ein Teil des körperlichen Gewebes zugrunde geht. Solange die Fruchtblase geschlossen ist und es nicht zu einer aufsteigenden Bakterienbesiedlung kommt, entstehen keine »Gifte«. Eine allmähliche Verwesung tritt erst ein durch Kontakt mit Bakterien.

Und trotzdem ist oft gleichzeitig eine Tendenz da, das Baby nicht hergeben zu wollen. Im Falle, daß eine Geburt bevorsteht, macht diese Gespaltenheit den Geburtsvorgang oft beschwerlich und kann ihn hinausziehen.

Je nach Situation und Zeitpunkt der Schwangerschaft wird entweder die Geburt bald nach Feststellen des Todes eingeleitet oder aber, wenn Frauen nähe am errechneten Entbindungstermin sind, möglicherweise das natürliche Einsetzen der Wehen abgewartet. Für manche Frauen ist die Vorstellung, daß sie ihr totes Kind selbst zur Welt bringen müssen, unerträglich. Obwohl zunächst der Wunsch nach einem Kaiserschnitt sehr häufig ist, sind Frauen meistens im nachhinein froh, daß sie davon verschont blieben.

Die Erfahrung der Geburt kann tief anrühren. Frauen erfahren das Geburtserlebnis oft losgelöst vom Tod. Deshalb ist es wichtig, eine positive Geburtserfahrung anzustreben und in der Geburtsvorbereitung Erlerntes anzuwenden. Manche Frauen, die ihr Kind gesehen haben, berichten, daß sie trotz des Todes des Kindes zunächst ganz euphorisch gewesen seien, so als ab der Körper nur Schritt für Schritt auf die Ereignisse reagieren kann: zuerst auf die Geburt und erst Tage danach auf den Tod.

Die gängige Meinung in der Klinik ist, daß man Frauen, die ein totes Kind zur Welt bringen, prinzipiell das Erleben der Geburtswehen ersparen sollte. Das kommt sicherlich vielen, vielleicht den meisten Gebärenden entgegen, aber nicht allen. Für manche Frauen ist es ungeheuer wichtig, die Geburt bewußt und

unvernebelt mitzuerleben. Für Frauen, die ein totes Kind zur Welt bringen, kann es gut sein, den Geburtsschmerz zu spüren. Wo sie sonst durch den Schock stumm wären, können sie bei der Geburt gleichzeitig ihre emotionalen Schmerzen hinausschreien, und das hilft ihnen.

Noch mehr als bei der Geburt eines lebenden Kindes sollten wir bei der Geburt eines toten Kindes selbst entscheiden können, was für uns jeweils gut und richtig ist. Wir sollten uns langsam vortasten und auch immer wieder im Laufe der Geburtsarbeit unsere Meinung ändern können. Wenn wir mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt werden oder gar, wie mancherorts immer noch üblich, bei der Entbindung eine Durchtrittsnarkose bekommen, verzögert und behindert dies das Einsetzen der Trauerarbeit und den Verlauf des Trauerprozesses.

Trauer nach einer Totgeburt

 Eine empirische Analyse zur Betreuung betroffener Frauen und Paare.

Eine Handreichung für professionelle HelferInnen.
Jessica Wolf

7. Abschiedsrituale beim frühen Tod eines Kindes Die Verarbeitung des Verlusts durch rituelle Handlungen

7.4.1 Den Verlust begreifbar machen

Die Begegnung mit dem toten Kind – davor schrecken zunächst viele Eltern zurück. Sie haben Angst davor, dass das Kind missgebildet ist, oder werden evtl. zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Anblick eines toten Menschen konfrontiert. Die Gelegenheit, das eigene Kind sehen und möglicherweise sogar halten oder baden zu können, erlaubt den Eltern die Situation, im eigentlichen Sinn des Wortes, zu begreifen. Der körperliche Kontakt mit dem Baby hilft, den Verlust zu realisieren. (vgl. Borg/Lasker 1987, 56ff) 8 Zu weiteren Ausführungen bezügl. Abschiedsritualen, die nach einer längeren Trauerzeit vollzogen werden, siehe u.a. Nijs 1999, 35ff.

Zudem kann so die Bindung der Eltern zum Kind vollendet werden, was für einen heilsamen Trauerprozess wichtig ist. (vgl. Lothrop 1998, 80) Viele in der Praxis Tätige berichten davon, dass die Verarbeitung einer Tot- oder Fehlgeburt wesentlich davon abhängt, ob den Eltern die Möglichkeit gegeben war, das Kind kennen zu lernen. „Noch zwanzig und mehr Jahre später hatten viele keinen Frieden damit gefunden und litten noch immer unter der Last von Unverarbeitetem. Wenn die begonnene Bindung abrupt abgebrochen wird, bleibt eine große Unruhe zurück. Unser Baby kennen zu lernen, unsere Beziehung zu ihm zu bejahen, ermöglicht ein gutes, heilsames Abschiednehmen“ (Lothrop 1998, 80). Für ein solches Abschiednehmen brauchen trauernde Eltern konkrete Erinnerungen. Erinnerungen daran, wie das Baby ausgesehen hat, was besonders an ihm war, wem es ähnlich gesehen hat. Somit erhält das Kind seinen sicheren Platz im Leben der Familie und es bleibt nicht das Gefühl zurück, etwas Wichtiges versäumt zu haben.

Häufig haben Eltern zunächst Angst davor, ihr totes Kind zu sehen, oder lehnen es im ersten Augenblick nach der Entbindung sogar ab. Professionelle HelferInnen können hier die betroffenen Eltern unterstützen, indem sie einfühlsam schildern, wie das Kind aussieht und ggf. welche Fehlbildungen es hat. Das nimmt Müttern und Vätern die Scheu vor der ersten Begegnung. (vgl. Lothrop 1998, 84ff) Wenn Kinder mit Fehlbildungen zur Welt kommen, steht oft die Frage im Raum, ob die Eltern den Anblick überhaupt verkraften können. Die Erfahrung aus der Praxis hat jedoch gezeigt, dass die Realität nie so schlimm ist wie die ‚Monsterfantasien’, die die Eltern entwickeln können, wenn sie ihr Kind nicht sehen. (vgl. Internet 1) Eltern sehen ihr Baby mit den Augen einer Mutter bzw. eines Vaters und nicht aus der klinischen Sicht des medizinischen Betreuungspersonals. „Fehlbildungen werden oft nicht wahrgenommen oder stehen zumindest nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern Eltern verweilen bei dem, was an ihrem Kind schön und einzigartig ist, und bewahren das in ihrem Herzen“ (Lothrop 1998, 85).

In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass nicht alle Eltern den Wunsch haben, ihr verstorbenes Kind zu sehen. Häufig wird diese Entscheidung im Nachhinein bereut, andere Eltern jedoch bleiben überzeugt davon, den für sie richtigen Weg eingeschlagen zu haben. (vgl. (Borg/Lasker 1987, 56) Wenn die Eltern es ablehnen, ihr Baby anzusehen, sollte jemand anders (z.B. ein Familienmitglied oder ein Freund/eine 74.Freundin) in der Lage sein, es später genau zu beschreiben, um so mögliche Fragen beantworten zu können. (vgl. Lothrop 1998, 82)

Die vollständige Diplomarbeit kann unter http://home.arcor.de/jessiw/downloads.htm
als PDF-Datei heruntergeladen werden.

Der Baum

Ein Kapitel für Pirko 😉

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Gärtner stellten den Baum in das Loch
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Nika schüttet Erde auf das Bäumchen

Einige Zeit nachdem Lara beerdigt war, fand ich für mich heraus, dass ich gerne einen Platz haben wollte, an dem ich Lara nahe sein konnte und der für mich aussagen konnte, dass für mich das Leben noch nicht zu Ende war. Der Friedhof kam nicht in Frage, da ich Lara 800 km entfernt bei meiner Mutter beigesetzt hatte. Und auch heute noch, wo ich wieder in der Nähe des Friedhofs lebe, bin ich kaum dort.

Wie ich darauf kam, weiß ich heute nicht mehr, aber ich beschloss, ein Bäumchen für sie zu pflanzen. Dass das in Hamburg möglich war, erfuhr ich schnell.

Ursprünglich wollte ich gerne an meinem Lieblingsplatz an der Außenalster m einen Baum haben. Ich traf einen Gärtner, der mir die Möglichkeiten aufzählte.

Ich hätte dort an der Außenalster eine Trauerweide pflanzen können oder ein japanisches Kirschbäumchen an einem Spielplatz, der in einem anderen Stadtteil lag.

Schlussendlich entschied ich mich für das Kirschbäumchen. Es erschien mir hoffnungsträchtiger und die Idee meiner Lara an einem Spielplatz zu begegnen, gefiel mir auch immer besser.

Immer wieder, wenn ich dort saß oder sitze, sehe ich im Geiste ein Mädchen dort spielen, dass nur ich sehen kann. Meine Lara!

Ich kaufte also diesen Baum. Der Gärtner grub noch das Loch und stellte den 2,5 m hohen Baum in das Loch dann waren wir allein.

Ich hatte ein paar Leute eingeladen, bei mir zu sein, die mir wichtig waren, die Lara gekannt hatten oder die mir jetzt eine Hilfe waren auf meinem Trauerweg.

Wir gruben den Baum ein und ich las noch einen Brief an Lara vor. Dann banden wir den Brief an Heliumballons und ließen einzelne Ballons mit dieser Gruppe zusammen steigen. Es war wahnsinnig schön.

Ich denke, das ganz ging wahnsinnig schnell, aber umso wichtiger war es für mich, das zu tun!

Für Lara

Gepflanzt nur für Dich
kleine Lara
ein Baum der Liebe
dessen Äste in den Himmel ragen
wie unsere Arme voll von Sehnsucht
getränkt mit unseren Tränen
mögen seine Wurzeln
sich tief in die Erde graben
wie Du Dich in unsere Herzen

Pirko Silke Lehmitz
18.03.1998

Und bis heute bin ich gerne bei meinem Bäumchen, wenn er im Frühjahr blüht. Leider schaffe ich es nicht jedes Jahr, aber es ist ein wertvolles Wissen, dass dort mein Baum steht und den Kindern dort Freude bringt! Eine japanische Kirsche wird im Schnitt 60 Jahre alt. Ich hoffe, sehr, dass auch mein Bäumchen so lange lebt!

Monika G.
6.1.2008

„ Was mache ich nur wenn sie gleich schreit?“

Die Geburt von Kim Nova (21 SSW)

Morgens wurde noch einmal Blutabgenommen und noch ein CTG gemacht.
Das Kind lebt!
Aber liegt es wohl jetzt im Trockenen, es ist ja kein Bauch mehr da?
Nun kam die Zeit des Wartens bis gegen Mittag die Ärztin kam und sagte „ Es gibt keine Hoffnung mehr, wir müssen die Geburt einleiten, ihren Blutwerte sind sehr schlecht und auch ihre Nierenwerte. Es geht um ihr Leben! Rufen sie ihren Freund an, wir werden gleich die Geburt einleiten!“
Ich rief sofort meinen Freund auf dem Handy an, da ich wusste, er war gerade unterwegs, um Silvio zu meiner Mutter zu bringen. Ich war sehr gefasst und ruhig, sagte ihm, er soll kommen.

Nun kam die Hebamme und fuhr mich in den Kreissaal. Sofort bekam ich Penicillin angehängt und bekam das Gel. Kurz darauf war auch mein Freund da, um mir beizustehen. Ich weiß bis heute nicht, wie er es so schnell in die Klinik geschafft hat. Aber nun war er da und ich war froh, ihn an meiner Seite zu haben. Zusammen schaffen wir das schon , wir haben es schon beim Silvio super gemacht.
Ich habe geglaubt, dass ich wüsste,  was auf mich zukommt. Ich kannte es ja von der Geburt von meinem Silvio. Nur das, was kam war der blanke Horror. Und auf einen Schlag waren sie da, die Wehen! Aus dem Nichts. Aber in so einer Stärke, die ich kaum beschreiben kann. Es waren keine Wehen, wie ich sie von Silvios Geburt her kannte,  sondern unendliche Schmerzen am ganzen Körper, die überhaupt nicht aufhörten. Ich bekam dann Schmerzmittel, die alles taten, nur nicht geholfen haben. Nach einer Weile kam dann der Arzt und öffnete mir manuell den Muttermund, damit es schneller gehen würde. Ich hatte Schmerzen die kaum auszuhalten waren, ich habe mich im Bett hin und hergewälzt.
Und ich hatte das Gefühl, sie will sich Zeit lassen zu kommen. Sie möchte, dass ich Zeit habe, um Abschied von ihr zu nehmen. Ich wurde wirklich zur Furie, ich habe geschrieen und gezornt wie ein kleines Kind, das kein Eis bekommt. Im nachhinein schäme ich mich, die Hebamme hat sich einiges anhören müssen. Mein Freund immer an meiner Seite, der meine Hand hielt und einfach nur da war.
Und auf einen Schlag waren sie da, die Presswehen. Ich war froh, endlich konnte ich was tun, mithelfen, sie von ihren Leiden zu befreien. Und dann kam der furchtbare Gedanke „ Was mache ich nur wenn sie gleich schreit?“
Aber ich konnte ihn gar nicht zu Ende denken, denn sie war da  „STILLGEBOREN“
530gr schwer 29 cm groß“ KIM-NOVA“ unser Wunschkind.
Und sofort war der Gedanke da: “Ich war es die sie umgebracht habe “Was habe ich nur getan? Was habe ich verbrochen, dass Gott mir so eine schwere Prüfung gibt?“
Ich weiß das mich keine Schuld trifft, aber sie  waren einfach da, diese Schuldgefühle.
Ich wollte sie nicht sehen nur weg vom Geschehen, weit weg!
Ich wurde sofort in den OP gefahren zur Ausschabung.

Als ich wach wurde, wusste ich nicht, was passiert war: Hatte ich nur einen bösen Traum, habe ich wirklich Kim-Nova still geboren?
Nein das kann nicht sein. Ich muss nur warten, bis sie mir meine Kleine bringen und ich sie anlegen darf. Warten nur warten .Es ging mir komischer weise sehr gut ich hatte wirklich das Gefühl, sie bringen sie mir .Ich muss nur warten können.
In die Realität zurückgeholt hat mich dann die Krankenschwester, die gesagt hat, ich solle mir Gedanken machen, welches Beerdigungsinstitut ich möchte.
Was soll ich? Da war mir auf einen Schlag klar, dass es kein böser Traum war.
Auch hat mir die Schwester, der ich heute sehr dankbar bin, nahe gelegt sie anzusehen, Abschied zu nehmen und ein Bild von ihr zu haben.
Mein Freund und ich haben sie dann am nächsten Tag angeschaut, was mit einigen Zwischenfällen ( über die ich auch nicht sprechen will) verbunden war.

Unser Wunschkind KIM-NOVA

Und nun lag es da, in ein Handtuch gewickelt. Und sie sah aus wie unser Sohn Silvio: Die gleiche Runzelstirn, ein kleines und ein etwas größeres Ohr, die langen Finger. Einfach fertig, sie hätte nur noch wachsen müssen. Und wunderschön.
Und dann dieses Lächeln auf ihrem Gesicht das sagt „ Seid nicht traurig, mir geht es gut dort, wo ich nun bin. Schaut noch vorne, schaut auf euch bringt euer Leben ins Reine, ich gebe Euch hiermit den Anstoß. Mir geht es gut und ich bin bei euch.“
Vielleicht für viele unverständlich, aber ich hatte diese Eingabe, als ich sie so friedlich dort liegen sah.
Heute bin ich sehr froh über jeden der mich ermutigt hat, sie anzuschauen. Dieses Bild kann mir niemand mehr wegnehmen. Weiter (Beerdigung)

Diana30 (26.06.2003)

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammenkauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege saß, schien fast körperlos. Sie erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: „Wer bist du?“ Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und leise, daß sie kaum zu hören war.  „Ach, die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte grüßen. „Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit mißtrauisch.

„Natürlich kenne ich dic. Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“  “ Ja aber, …“ argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast Du denn keine Angst?“  „Warum sollte ich Angst haben und vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch genauso gut wie ich, daß du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“  „Ich bin … traurig“ antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

Die Kleine alte Frau setze sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch, was dich bedrückt.“

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. „Ach, weißt du, “ begann sie zögernd und äußerst verwundert, „es ist so, daß mich neinfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter  die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“ Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist  heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Atemnot und Magenkrämpfen. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie  Herzschmerzen. Sie sagen: Man muß sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur  Schwächlinge Weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen,  damit sie mich nicht fühlen müssen.“

„Oh ja, „, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen habe ich schon oft kennengelernt.“ Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen.  Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.   Aber nur, wer die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen  gar nicht, daß ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narbe. Oder sie legen sich einen dicken Panzer zu aus Bitterkeit. „Die Traurigkeit zu. “

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz  verzweifelt.  die kleine alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“. flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln  kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.“  Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: „Aber … aber … – wer bist du  eigentlich?“

„Ich ?“ sagte die kleine alte Frau schmunzelnd und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. „Ich bin die Hoffnung“.

Das Tränenkrüglein

Das Tränenkrüglein

In alter Zeit, lange, bevor es dich und mich gab, da lebte einmal eine Witwe, der ward ihr einziges Kind vom Tod geholt. Die vermochte sich vor Herzeleid nicht zu fassen und weinte sich am Tag und in der Nacht die Augen aus.

Es ergab sich aber, dass sie einmal des Nachts einen Botengang machen musste von einem Dorf zum nächsten. Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, denn ihre Augen waren getrübt von all den vielen Tränen um ihr Kind. Doch auf einmal tauchte eine seltsame Geisterschar vor ihr auf, das war die Frau Berchta mit ihren Heimchen. Die zogen auf dem verschneiten Feld mit leisem Singsang an ihr vorüber, dann über den Heckenzaun und strebten nun dem Walde zu. Schon war der Zug bei den ersten Tannen angekommen, da trippelte ängstlich ein Kind mit nackten Füßchen im kalten Schnee der Schar hinterher und schleppte an einem schweren Krug. Als es nun auch an besagten Heckenzaun kam, waren die anderen schon alle hinüber. So lief es denn ängstlich hin und her und suchte nach einem Durchschlupf im Flechtwerk, denn der Steinkrug war viel zu schwer für das zarte Kindchen, und es konnte ihn nicht drüber heben. Da endlich erkannte die Frau, dass es ihr eigenes Kind war, und es drückte ihr beinahe das Herz ab. Sie rief es bei seinem Namen, aber das Heimchen hörte nicht hin.

Da fasste es die Mutter bei der Hand, doch das Kind erkannte sie nicht. Der Mutter blutete das Herz bei alle dem, und sie weinte und presste das Kleine an ihre Brust. Ais aber die salzigen Tränen des Kindes Äuglein netzten, da erkannte es die Mutter und sagte wie im Traum: »O wie warm ist Mutterarm!« »Ach Kind, willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben?« fragte traurig die Frau. Sprach das Kind: »Lieb Mutter mein, leg ab die Trauer und lass das Weinen. Denn alle Tränen, die du vergießt, die fließen über mein Grab in diesen Krug. Den muss ich nun nachschleppen, und er wird immer noch voller. Da schau nur, mein Hemdchen ist schon ganz nass, und die Kinder laufen mir alle davon. So gib mich doch endlich frei und lass mich los.« Da weinte sich die Mutter einmal noch von Herzen aus, küsste den blassen Kindermund, hob ihr Liebstes über den Zaun und sah mit sehnendem Blick dem weißen Hemdchen nach, bis es fern in der hellen Schar untergetaucht war. Wollte sie dann wieder einmal der Gram übermannen und wollten ihre Augen überfließen vor Kummer, so hat sie schnell an das Krüglein gedacht und an den Zaun, schluckte tapfer die Tränen herunter und trug nun ihr Weh ohne Frage und Klage.

Deutsches Volksmärchen

Das Tränenkrüglein

Von Trennung, Tod und Trauer, Märchen zum Gelingen des Lebens,
Angeline Bauer S. 55/64

Damit wir uns dem Märchen annähern und tiefer in die Bilder hineinsehen können, möchte ich es zuallererst Schritt für Schritt erläutern.

Schon im ersten Satz erfahren wir, wie unermesslich groß das Leid und Unglück ist, denn der Mutter wurde nicht nur ihr einziges Kind vom Tod geholt, sie ist auch noch Witwe. Sie hat also vorher bereits ihren Mann verloren und muss ihr Los nun ganz alleine tragen.

Die Augen der Mutter sind getrübt van all denbut_buch_04 vielen Tränen, die sie weint, und: Der Vollmond schien auf das verschneite Land, aber sie sah die Schönheit nicht, erfahren wir weiter. Die Mutter hat also die Verbindung zum Leben verloren und nimmt nichts mehr wahr von dem, was um sie herum vorgeht. Sie hat sich ganz zurückgezogen in ihre Trauer und lässt nichts und niemanden mehr an sich heran. Ihre Welt ist einsam, verschneit und selbst der Vollmond schafft es nicht, Licht in die dunkle Nacht zu bringen, die sie umgibt.

Im nächsten Bild sehen wir eine seltsame Geisterschar.Bauer Von Frau Berchta ist da die Rede, die mit ihren Heimchen über das verschneite Feld zieht. Frau Berchta, das ist ein anderer Name für Perch, Molle oder Hei, eine Unterweltsgöttin aus der Sagenwelt, zu der die Toten gehen. Diese Unterwelt hat aber nichts mit unserer Vorstellung von Hölle zu tun, sondern ist einfach nur als »Welt der Toten« zu begreifen. Heimchen sind Insekten aus der Familie der Geradflügler, zu denen z. B. auch die Grillen gehören. In der Mythologie werden »geflügelte« Tiere als Seelenträger gesehen, denn weil sie fliegen können, glaubte man, dass sie die Seelen der Verstorbenen in den Himmel tragen. Im Märchen werden Heimchen dann zu Zwergen und Elfen mit durchsichtigen Flügeln. In vielen deutschen Sagen finden wir diese Verbindung zwischen Heimchen und der Frau Berchta oder Percht, die mit ihnen durch eine Art Zwischenwelt zieht oder sie in das Reich der Toten geleitet. Normalerweise hat kein Sterblicher Einblick in diese »Zwischenwelt«, aber unsere trauernde Mutter, wohl selbst vor Kummer schon mehr tot als lebendig, kann die seltsame Geisterschar sehen.

Sie kann beobachten, wie sie singend wie die Zirpen durch die verschneite Nacht zieht, wie die Heimchen schließlich über einen Heckenzaun klettern und dann dem Wald entgegenstreben. Dieses über den Heckenzaun klettern, steht symbolisch für das Überwechseln in die andere Welt, denn der Zaun markiert hier die Grenze zwischen Leben und Tod.

Als Nächstes erzählt das Märchen von einem kleinen, zarten, ängstlichen Kindchen, das sich mit einem viel zu großen und viel zu schweren Krug voller Tränen abmühen muss, und das verzweifelt versucht, den Anschluss an eine Gruppe »Gleichgesinnter« zu finden, die ihm in der Welf der Toten, wo es ja jetzt nun einmal sein muss, so etwas wie Schutz und Geborgenheit bieten könnte. Das Kind, das wird in diesem Bild am Zaun sehr deutlich, gehört nicht mehr in die Welt der Mutter, aber weil die Mutter es nicht loslässt, findet es auch seinen Weg in die Welt der Toten nicht, wo die kleine Seele endlich zur Ruhe kommen könnte.

Die Tränen der Mutter, die direkt auf die Augen des Kindes fallen, öffnen ihm dann aber noch einmal den Blick für das Diesseits, und es erkennt die Mutter und fühlt ihren Schmerz. Und sofort versucht die Verzweifelte auch wieder, ihr Liebstes in ihrer Welt festzuhalten. Ach Kind, fleht sie willst du nicht kommen und im Haus deiner Mutter bleiben? Nur wenn die Mutter das Kind gehen lässt können beide ihren Frieden finden.

Aber das Heimchen weiß, es gibt kein Entrinnen, und der einzige Weg den Frieden zu finden, ist für sie beide, dass die Mutter es gehen l lässt. Darum bittet es dann auch inständig, und es zeigt der ; Mutter den viel zu schweren Krug, i n dem es die Tränen auf[ fangen muss und zeigt auch das nässe Hemdchen, das es trägt.

Unser Wort »Hemd« wird vom Wort ham bzw. dem althochdeutschen Wort hamo abgeleitet, was so viel bedeutet wie ; Hulle, Haut, Kleidung, aber auch Gestalt, Seele, oder Schutzgeist. Das Hemd ist das erste Kleidungsstück, das wir angezogen ,  bekommen und das letzte, wenn wir ins Grab gelegt wer|  den. Es ist das Kleidungsstück, das direkt auf der Haut getragen wird, und deshalb ist es symbolisch mit dem Wesen eines Menschen verbunden. Der Volksmund sagt: Wer sein letztes Hemd gibt, gibt olles was er hot und noch ein bisschen mehr – denn ohne Hemd dazustehen bedeutet, keinen Schutz mehr zu haben und den Blick freizugeben auf sein Intimstes und damit auf seine Seele. In einigen Regionen Deutschlands bekamen Konfirmandinnen und Konfirmanden noch im letzten Jahrhundert ein Totenhemd zur Konfirmation geschenkt, und Mädchen nähten Totenhemden für ihre Aussteuer. Solche Bräuche versinnbildlichen, dass der Tod zum Erwachsensein gehört und dass das Leben vergänglich ist.

In dem tränennassen Hemdchen des Kindes sehen wir also die von der Trauer der Mutter beschwerte Seele. Und als die Mutter dies wahrnimmt und das Flehen und Bitten ihres Kindes hört, versteht sie endlich. Da weint sie sich einmal noch von Herzen aus, dann hebt sie es über den Zaun und lässt es endlich gehen, hebt es. Das Über-den-Zaun-heben, ist ein Bild des bewussten Loslassens, denn der Zaun symbolisiert in diesem Märchen die Grenze zwischen unserer Welt und dem Reich der Toten.

Nicht dass die Mutter nun nicht mehr traurig wäre und das verlorene Kind vergessen würde. Aber erst durch das bewusste Loslassen kann sie sich den Tod des Kindes als unabdingbare Tatsache eingestehen, was Voraussetzung dafür ist, in die nächste Phase der Trauer eintreten und dem Kind einen neuen, der Situation angemessenen Platz in ihrem Leben einräumen zu können – den Platz eines »inneren Begleiters«. Die Beziehung zu ihrem Kind bleibt zwar weiter bestehen, aber sie hat eine andere Qualität erhalten. Und damit kann die Frau sich wieder dem Leben zuwenden, könnte Neues und Schönes in sich entstehen lassen und wieder in Beziehung zu ihren Mitmenschen treten.

Versuchen wir einmal, das Märchen auf eine reelle Lebenssituation zu übertragen. Da ist eine Mutter mit einem Kind, das sterben wird. Man hat es ihr gesagt, ihr Herz spurt es auch, aber sie will es nicht akzeptieren. Alles in ihr sträubt sich dagegen. Vielleicht saß sie schon Wochen, Monate oder gar Jahre am Bett des kranken Kindes. Der Vater hat längst aufgegeben. Er ist der Trauer überdrüssig, hat Mutter und Kind verlassen und sich wieder dem Leben zugewandt. Das kann ein »inneres Verlassen« sein – vielleicht ist er ja physisch noch da, aber auf der psychischen Ebene ist er längst weggegangen.

So ringt nun die Mutter alleine um das Leben des Kindes. Hier ist sie, dort der Tod, und die Seele des Kindes ist hin- und hergerissen zwischen beiden Welten. Das Kind weiß, es

muss gehen, es gibt kein Zurück ins Leben, aber die Mutter hält es mit all der Macht ihrer Tränen fest. Sie denkt, wenn sie nur genug dran glaubt und nicht aufhört zu kämpfen, dann kann sie für ihr Kind den Tod überwinden.

Selbstverständlich können wir die Figuren des Märchens beliebig austauschen. Der Vater kann den Platz der Mutter einnehmen. Er bleibt bei dem Kind, die Mutter ist längst gegangen oder es stirbt die Mutter, und die Tochter/der Sohn kann nicht loslassen. Was aber immer bleibt, ist der schreckliche Schmerz des Abschiednehmens. Und gerade hier hat das Märchen sehr tröstende Bilder für uns und zeigt uns, was das Trauern vollbringen kann. Zunächst einmal geht es um die Fähigkeit, Gefühle gleich welcher Art zu erleben, sie auszudrücken und auszuhalten. Man ist traurig und weint. Wut will vielleicht herausgeschrien oder abgearbeitet werden. Das Gefühl der Leere wird möglicherweise durch Schweigen ausgedrückt und so fort. Erst das Ausleben all dieser Gefühle ermöglicht das Abschiednehmen.

Schließlich hebt die Mutter das Kind über den Zaun und lässt es fortgehen. Damit vollzieht sie aktiv den Akt der Trennung, was auch beinhaltet, dass sie alle eigenen Anteile zurückholt und die des anderen an ihn zurückgibt. Dies gelingt der Mutter, ohne dass es sie zerstört, und so kann sie als eigenständige Persönlichkeit in die reale Welt zurückkehren und auch dem Kind seinen Weg in die Welt der Toten freigeben. Wenn man

so will, leistet sie eine Art psychischer Sterbehilfe, denn auch das Fortgehen ist ja nicht einfach, aber sicher fällt es dem Sterbenden leichter, wenn er weiß, dass er von dem Zurückbleibenden nichts mitnehmen muss und dessen Segen hat. Viele Menschen, die einen Anderen durch eine lange Krankheit bis hin zum Tod begleitet haben, berichten davon, dass der Kranke etwa zwei bis drei Tage vor um  seinem Tod nicht mehr wirklich ansprechbar war. Der Sterbende braucht Zeit,sich ganz aus seinem Leben loslösen zu können.

Er hatte einen nach innen gekehrten Blick, wirkte völlig abwesend oder »wie in einer anderen Welt« und hat seine Angehörigen vielleicht nicht einmal mehr erkannt. Für den Sterbenden ist dies die Phase des Loslassens. Er geht in eine Art Niemandsland, ist nicht mehr hier und noch nicht dort. Er braucht diese Zeit »zwischen den Welten«, um sich ganz aus seinem Leben lösen zu können. Das Schlimmste, was man ihm antun könnte, wäre, ihn immer wieder anzuflehen: »Bleib doch hier, ich brauche dich, du darfst mich nicht verlassen!«

Wenn wir den Sterbenden lieben, müssen wir tun, was die Mutter in unserem Märchen tat – ihn freigeben und „über den Zaun heben“, so schwer uns das auch fällt In Gesprächen mit Menschen, die auch Jahre nach dem Tod eines Partners oder Kindes nicht damit fertig wurden, habe ich festgestellt, dass einige von ihnen – bewusst oder unbewusst- »je länger traurig sein« mit »desto mehr lieben« gleichsetzen. Viele glaubten, durch dieses »desto mehr lieben«, ihren Unmut darüber entlasten zu können, selbst noch am Leben zu sein, während der geliebte Mensch sterben musste.

Diese Menschen sprachen von »unüberwundener Trauer«, aber ich hatte den Eindruck, dass sie nicht wirklich getrauert, sondern im Gegenteil, intensive Trauerarbeit sogar vermieden haben. Sie haben sich vielleicht aus dem Leben zurückgezogen, waren depressiv, haben sich selbst verloren – aber sie haben nicht wirklich getrauert. Mit Trauern ist nicht nur gemeint, traurig zu sein und einen Verlust zu beklagen – Trauern ist ein intensiver und oft sehr schmerzhafter Prozess, mit dem letztendlichen Ziel, den Verlust des Verstorbenen zu überwinden, sich von ihm zu lösen (was keinesfalls gleichbedeutend ist mit »ihn vergessen«) und als Mensch mit neuen Zielen und Visionen weiterzuleben.

Zur Trauer gehört die Auseinandersetzung mit dem Toten, mit dem was er einem bedeutet hat, im positiven wie im negativen Sinne, und zur Trauer gehört auch das Zulassen so ambivalenter Gefühle wie Liebe und Hass.

Doch so notwendig derartige Gefühlsirritationen sind, so gefürchtet sind sie auch, und zwar von den Betroffenen selbst genauso, wie von den Menschen, die mit den Trauernden zu tun haben. Dann hört man Forderungen wie: »Du musst tapfer sein!« Und: »Lass dich nicht so gehen, das Leben geht schließlich weiter!« Oder der Hinterbliebene setzt sich selbst unter Druck, in dem er sich glauben macht, er könnte den Verlust schnellstmöglich verarbeiten und zu zügig zu seinem gewohnten Alltag zurückkehren.

Häufig steckt dahinter aber eine unbändige Angst vor den gewaltigen Gefühlsstürmen, die losbrechen könnten, wenn wir uns der Trauer wirklich öffnen. Angst, den Schmerz nicht aushalten zu können, Angst vor der Endgültigkeit des Abschieds. Dann lieber gar nicht fühlen, den Schmerz verdrängen, sich in die Arbeit stürzen, sich betäuben und ablenken um jeden Preis Hinzu kommt, dass ambivalente Tragegefühle in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Wer weint und schreit, den Verstorbenen vielleicht klarer liebt als je zuvor, andererseits aber auch seiner Wut über ihn, dass er einen verlassen hat, Ausdruck verleiht, das Gute wie das Schlechte an ihm beschreibt und sich dann wieder mit Schuldgefühlen herumplagt und sich anklagt, der erntet im Allgemeinen wenig Verständnis bei seinen Mitmenschen.

Gefühle und Erinnerungen, die peinlich oder beängstigend sind, werden darum oft verdrängt, verleugnet und beschwichtigt. Dadurch wird der Verstorbene oftmals verherrlicht und auf ein Podest gestellt, und die seelische Konfrontation mit uns selbst, unseren Erinnerungen und unserem Verlust werden unmöglich gemacht.

Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. DOS Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an ihn, in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbst- bestimmtes, neues Leben führen kann.

Die Trennung wird nicht einfacher zu erfragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.

Doch gerade dieses oben beschriebene Wechselbad der Gefühle leben zu dürfen, ist so wichtig für den Trauerprozess. Das Ausleben der Gefühle wird dem im Leben Gebliebenen   am Ende helfen, den Verstorbenen, bzw. die Erinnerung an   ihn, so in sein Denken und Sein zu integrieren, dass er irgendwann ein von dem Verstorbenen losgelöstes und selbstbestimmtes, neues Leben führen kann. Die Trennung wird nicht einfacher zu ertragen sein, wenn wir den Verlust akzeptieren und diese überwältigenden Gefühle aushalten, aber wir spüren uns in unserem Schmerz, und das  hält uns lebendig und lässt uns weiterleben.

Trauerkrankheit

Sie erinnern sich, was ich zuvor über die Trauerphasen geschrieben habe: Zur dritten Trauerphase gehört das Loslassen  und Sich-Trennen. Der Verstorbene nimmt einen neuen Platz  im Leben des Hinterbliebenen ein, wird zu einer Art innerem Begleiter oder Schutzengel für ihn. Damit das so positiv verlaufen kann, muss vorausgegangen sein, dass der im Leben Gebliebene auch die negativen Gefühle für den Verstorbenen wahrnehmen, äußern und somit in seine Trauer einbeziehen könnte. Denn wird der Verstorbene nur positiv gesehen und ein glorifiziertes Bild von ihm aufgebaut, führt die Identifikation mit ihm oft zu der Problematik, dass wertvolle Anteile des eigenen Ichs nicht mehr gesehen und anerkannt werden. Dafür richten sich Anklagen, die von sich dem Verstorbenen gelten, mit dem glorifizieren Bild aber nicht mehr zu vereinbaren sind, gegen das eigene Ich. Natürlich gehören Selbstanklagen mit zum Wechselbad der Gefühle eines Trauerprozesses. Verlieren wir uns aber in ihnen und hören sie auch nach Verlauf von Jahren nicht auf, kann das Ausdruck einer narzisstischen Neurose sein. Sigmund Freud betont in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Trauer und Melancholie. Wird der Zorn auf den so sehr geliebten, verstorbenen Menschen unterdrückt, dann verinnerlicht und gegen das eigene Ich gewendet, findet eine negative Fixierung an das »verlorene Objekt« statt. Die Folge ist, dass der Trauernde zum Melancholiker wird, für den es nur noch sein Leid gibt, der nichts Neues mehr leben kann und für andere Menschen unerreichbar bleibt. In solchen Fällen sprechen Psychologen von Trauerkrankheit.

Silberbirke

Silberbirke, ein indianischer Weiser, hat Eltern, die ein Kind betrauern, einmal diese Botschaft übermittelt:

Weine nicht, weil Du meinst Du habest für immer die schönste Blume in Deinem Garten verloren. In Wahrheit ist die Blume in einen weit schöneren Garten versetzt worden, wo sie größeren Duft verbreitet und weit lieblicher und schöner ist, als sie es je auf Erden hätte sein können.

Ihr sind viele der traurigen und kummervollen Geschehnisse auf Erden erspart geblieben, mache Grausamkeiten und viele, viele verderbliche Einflüsse. Dein Kind wird all das, nie kennenlernen. Freue Dich, daß einer jungen Seele die Freiheit geschenkt wurde, die durch das Elend, das Deine Welt heimsucht, nie bekümmert werden wird. Traure nicht um Dein Kind; gräme Dich, wenn Du willst, um Deinen eigenen Verlust, denn Dir wird das kleine strahlende Gesicht fehlen, das kindliche Plappern, die so kleine Gestalt.

Wenn Deine Augen es auch nicht sehen, Deine Ohren es auch nicht hören können, Dein Kind ist immer gegenwärtig.

Wenn Du aufhörst, Tränen zu vergießen, die vor Deinen Augen einen Schleier ziehen, wirst Du die Wahrheit erkenne, daß es in Gottes großem Reich keinen Tod gibt, und alle unter weit besseren Verhältnissen weiterleben in einer Welt, die reicher und lieblicher ist als alles was Du jemals erträumst hast.

Traure nicht um Dein Kind. Wisse, daß ein liebender Gott dem Kind Engel schenkt hat, die es schützen werden und Dein Kind wird, wenn die Zeit sich erfüllt hat, mit Dir wieder vereint werden.